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Kein Wunder, dass Reverend Bickley heimlich und hoffnungslos in sie verliebt war. Er liebt sie noch immer, obwohl sie schon lange nicht mehr lebt. Er legt ihr Lilien aufs Grab und drückt mir schüchterne, trockene, traurige Küsse auf die Wange, wenn er geht, weil meine Wange das Nächstbeste ist.

Meine Großmutter wurde nicht in Wales geboren. Sie war ein Mädchen aus Cornwall, aufgewachsen in einem windgebeutelten Dorf an der Nordküste, wo die Fensterscheiben von der Gischt klebten und die Wetterfahnen nie still standen.
»Gespenster«, behauptete sie, »lebten in unserem Haus. Alte Schmuggler. Ich hörte nachts die Treppe knarren, wenn sie herunterkamen.« Ich schaute ihr ins Gesicht, nie ganz sicher, ob man ihr glauben durfte oder nicht.
Sie ist damals schon eigenwillig und hitzköpfig gewesen. Ihr Vater war Schuldirektor, und obwohl ich nie ein Bild von ihm gesehen habe, habe ich ihn mir oft genug vorgestellt, um mir eins von ihm zu machen - große Nase, blass, so sah ich ihn durch leere Straßen schreiten, Bücher an die Brust gedrückt, und sein schwarzer Mantel schlug ihm um die Beine. So mancher Jugendliche bekam seinen Stock zu spüren, aber seine einzige Tochter blieb davon verschont. Sie bot ihm die Stirn; sie stellte sich, voll bekleidet, in die Brandung; sie glaubte nicht alles, was der Pfarrer sagte, und kam nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause.
»Geschlagen hat er mich nie«, erzählte sie mir, »nicht ein einziges Mal. Dafür wurde ich eingesperrt - wann immer es ihm passte. Er sagte, das würde mir gut tun.«
»Und hat es?«
»Nein«, antwortete sie, »hat es nicht.«
Mrs. Fenwick ihrerseits war bettlägerig und verließ nie das Haus. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen. Diese ganze Küste und keine Möglichkeit, sie zu erkunden.
»Sie war dick, schlicht und einfach dick. Schon vor meiner Geburt war sie ziemlich dick. Sie hatten getrennte Schlafzimmer, meine Eltern. Er die Mansarde mit dem Blick aufs Meer und sie ein Zimmer auf der Hinterseite des Hauses, das sie nie verließ.« Ich sah ihren Blick glasig werden, abwesend. »Mein Leben lang hab ich sie nur im Dunkeln liegen gesehen.«
»Dein Leben lang?«
»Sie wollte nicht gesehen werden, sie schämte sich.«
»Sogar vor dir?«
»Vor allem vor mir. Wenn ich ihr Zimmer betrat, beschimpfte sie mich und befahl mir, ihr aus den Augen zu gehen.«
Ein Bild, das ich nicht abschütteln konnte - ein warmes, fleischiges Geschöpf, das in einem düsteren Hinterzimmer herumlag, nach altem Schweiß und Talkpuder roch und sich tiefer in die Decken vergrub, wenn die Tochter hereinkam. Das verstünde ich nicht, sagte ich - warum hat sie denn zugelassen, dass sie so dick wurde? Warum haben sie überhaupt geheiratet? Wie hat sie es ins Badezimmer geschafft? Ich sagte, dass sie ja wohl gar nicht zusammengepasst hätten.
»Vielleicht«, flüsterte meine Großmutter. »Aber die Liebe hat vielerlei Gesichter. Er hat ihr dieses Bettelarmband geschenkt, du weißt schon. Ein Anhänger für jedes Ehejahr. Ein Beweis für seine Liebe.«
Und so kam es, dass Louisa Fenwick als junges Mädchen in Pubs aus und ein spazierte, billige Zigaretten rauchte und eine Meisterschaft darin entwickelte, sich mit den Fingerspitzen von ihrem Fenster herunterzulassen, um in der Nacht davonzuschleichen und sich mit Soldaten auf Urlaub zu treffen. Sie saß draußen am Rand der Klippen. Sie rollte ihre Röcke hoch und trank Gin in den Dünen. Das erfuhr ich von meinem Großvater. Sie hat sich rumgetrieben, sagte er. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte.
Mit der Zeit fand ich es heraus: Es bedeutete, dass sie einen Liebhaber hatte.
Einen heimlichen natürlich - damals waren die Frauen gesittet, schlugen die Beine übereinander und bewahrten sich für später auf. Aber meine Großmutter hat sich kaum je um Traditionen gekümmert. Ich hätte wissen müssen, dass sie solche Geheimnisse hatte.
Sie beichtete mir die Geschichte, als ich fünfzehn war - bei ihrem dritten Glas Sherry an einem verregneten Abend. »Er hatte eine Narbe unter dem linken Auge«, sagte sie, »wie eine Mondsichel. Und er war Fischer, Evangeline. Mit eigenen Booten, Netzen, Angeln, Körben - mit allem, was dazugehört. Er fuhr von Padstow los, und ich stand am Ufer und sah zu, wie sein Boot kleiner wurde, und stellte mir vor, wie es wäre, wenn er nie wieder zurückkäme.«
Gibt es eine Geschichte, die sich besser zum Roman eignen würde? Wie romantisch! Meine Großmutter auf dem Landesteg, mit einer Hand hält sie sich das Haar aus dem Gesicht, mit der anderen wickelt sie ihren Mantel enger um sich. Oder vielleicht hat sie die andere zu einem wehmütigen Lebewohl erhoben. »Und?«, fragte ich. »Ist er zurückgekommen?«
»Mit Barsch oder Hummer sogar.« Sie nippte an ihrem Sherry. »Im Sommer konnten wir die Barsche ganz nahe am Ufer fangen. Schade, dass du nie am Meer gelebt hast, da ist dir was entgangen«, fügte sie hinzu.
Warum störte mich diese Entdeckung? Weil ich immer angenommen hatte, dass mein Großvater die große und einzige Liebe im Leben meiner Großmutter gewesen sei. Immer war ich davon ausgegangen, dass er am Ende des Tages der einzige Mann war, an den sie dachte. Vielleicht war er das auch. Immerhin hat sie ihn geheiratet. Aber mit fünfzehn war mein Herz hungriger denn je. Ich war bereit für die Liebe, ich sehnte mich danach, und als ich an diesem Abend zu Bett ging, hatte ich nichts im Kopf als das Bild eines Fischers. Ich lag wach da und stellte ihn mir vor - ein Gesicht voller Falten vom Blinzeln gegen die Sonne, ein Geruch nach Öl, die Hand im Nacken meiner Großmutter, während er sie küsst. Die Gedanken lösten einen Schmerz unter meinen Rippen aus. Nicht so sehr wegen meines Großvaters - er hatte sicher gewusst, dass es einen anderen gegeben hatte; es musste zumindest körperliche Anzeichen dafür gegeben haben in dem Ehebett in Pencarreg; der Schmerz galt vielmehr ihr. Ein gewaltiger Schmerz, der sich ohne Vorwarnung in mir entfaltete. Was war schief gegangen? Warum hatten sie nicht geheiratet? Hatte er sie nicht genug geliebt?
Die Wahrheit war, dass er starb. Aber das erfuhr ich erst, als sie selbst gegangen war. Ich fand einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt, der in der Taschenbuchausgabe eines Mädchenromans steckte. Vermisst, vermutlich ertrunken, hieß es da. Sein Fischerboot war, sanft auf den Wellen schaukelnd, den Bauch voller Wasser, aber ohne Besatzung gefunden worden. Meine Großmutter war damals gerade siebzehn. Eigentlich noch ein Kind. Ich sehe sie vor mir, wie sie die Nachricht entgegennimmt - mit weit aufgerissenem Mund, die Fäuste an die Schläfen gepresst. Ich sehe, wie sie sich nachts das Herz aus dem Leib schluchzt, während ihre Eltern so tun, als hörten sie nichts. Das Boot hatte Louisa geheißen. Ich glaube nicht, dass einem eine solche Liebe zweimal im Leben begegnet.
Ich weiß nicht, wie viel mein Großvater von alldem wusste. Zweifellos wurde er geliebt, aber es muss eine andere Art Liebe gewesen sein. Schließlich war er auch eine ganz andere Art Mann. Er war ruhig. Er war häuslich. Er nahm sich nur schüchtern die Freiheit zu einem Kuss heraus, als nähme er sich die Freiheit, einen fremden Raum zu betreten. Und er lebte vom walisischen Land, einer im Großen und Ganzen weniger trügerischen Lebensgrundlage als das Meer.
»Und wo hast du dann Großpapa kennen gelernt? Wenn du doch in Cornwall gelebt hast?«
Meine Großmutter lächelte still und schwenkte die letzten Tropfen Sherry in ihrem Glas. »Hier. In Wales. Ich habe eine Weile bei meiner Tante hier gelebt. Während meine Mutter begraben wurde.«
Ein großer weicher Hügel auf dem Friedhof. »Wie?«
»Bei einem Dorffest. Ich war einundzwanzig; eine alte Jungfer - na ja, so ungefähr. Er kaufte mir drei Würfe an der Wurfbude.«
Drei Wochen später waren sie verlobt. Sie erzählte, dass er sie auf dem von feuchtem Laub bedeckten Weg über den Goldminen um ihre Hand gebeten hatte, und als er wieder aufstand, hatte er ein nasses Knie. Diese Geschichte war mir lieber. Ich wollte von Liebe hören, die gut ausging, nicht von Liebe, die in einem Sturm versank. Ich wollte glauben, dass Zuneigung etwas Einfaches, Glattes, ohne scharfe Kanten ist. Niemand log, niemandes Herz wurde gebrochen.

Aber die Frage lag mir immer im Magen wie eine Natter im hohen Gras: Was wäre gewesen, wenn der Fischer überlebt hätte? Wenn es diesen plötzlichen Sturm vor fünfzig Jahren nie gegeben hätte, der ohne Vorwarnung, ohne von klatschenden schwarzen Wellen angekündigt worden zu sein, vom Atlantik heraufgezogen war? Meine Großmutter hätte ihn geheiratet - in einer gedrungenen kornischen Kirche, unter einem Himmel voller Möwen. Meine Mutter wäre nicht geboren worden. Und ich auch nicht. Dieses Kind in meinem Leib würde es nicht geben. Und Billy Macklin würde nicht durch die mitternächtlichen Gassen von Cae Tresaint schlurfen, mit sich selbst reden und die Namen der Blumen vor sich her sagen, an denen er vorüberkommt - Campanula rotundifolia, Clematis vitabla, Viola tricolor. Sein Kopf und sein Herz wären noch intakt.
Aber es hat keinen Sinn, sich so etwas vorzustellen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.09.2005