31.08.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Klar. Wenn man bedenkt, wer dein Vater war.«
Er stand auf, putzte sich ab. Ich wusste, dass ich ihn verletzt hatte. Ich hatte ihn weggestoßen, in eine Ferne, zu der nur Billy Zugang hatte. Langsam schob er sich aus der Dunkelheit der Scheune hinaus ins Licht. Ich konnte ihn nicht einfach so gehen lassen. Das konnte ich mir nicht leisten. »Billy!«, rief ich. »Hör zu! Ich möchte deine Freundin sein. Wenn du magst.«
Er sagte nichts.
»Wohin gehst du?« Aber er blickte nicht zurück. »Ich komm bald wieder«, versprach ich. Ich hoffte, dass er mich gehört hatte. Er war schon auf der Wiese und humpelte, Hände in den Taschen, Kopf gesenkt, zwischen den Kühen davon.

Ich kam wirklich zurück - mit Sonnencreme und Lakritze und ein paar Flaschen Orangeade, für die ich meine Ersparnisse ausgegeben hatte. Und er war auch da. Er musterte mich mit seinen großen blauen Augen, zwirbelte eine Butterblume zwischen Daumen und Zeigefinger, aber er sagte nicht viel. Ich platzte vor Fragen. Hat dir der Kopf wehgetan? Kannst du dich erinnern? Wer ist K? Wer? Was weißt du sonst noch? Was weißt du über zertrampelte Herzen? Aber ich war schlau genug, mir Zeit zu lassen. Er war ein Mensch, den man nicht hetzen durfte, sonst würde ich ihn verlieren - er würde zwischen den Nesseln verschwinden und sich in nicht mehr als ein Gerücht zurückverwandeln, eine schwache Spur, die sich durchs Gras schlängelte.

Noch etwas: Auf unserer Veranda tauchten wieder Blumen auf. Keine Stiefmütterchen oder Butterblumen, sondern riesige Stängel von Wiesenkerbel. Meine Augen tränten vom Blütenstaub. Keiner verstand, woher sie kamen. Eine Weile machte man mich verantwortlich. Um Gottes willen! Soll das ein Witz sein? Evangeline? Aber diese Blumen hatten nichts mit mir zu tun.
Nach einiger Zeit meldete mein Großvater es bei der Polizei, weil es ihm suspekt war, weil er überzeugt war, dass es etwas Böses zu bedeuten hatte. Aber die Polizisten waren ebenso ratlos wie wir. Ein heimlicher Verehrer vielleicht?, meinten sie. Meine Großmutter gab verächtliche, aber nicht unfreundliche Laute von sich.
»Bin ich nicht schon ein bisschen zu alt für so was?«, sagte sie.

Schwimmen
Schenken wir deshalb Blumen? Um Bewunderung auszudrücken? Manchmal. Aber es gibt auch andere Gründe. Als Symbol der Liebe oder der Anteilnahme. Um Danke zu sagen. Um Respekt zu bekunden. Um zu zeigen, dass wir jemanden mögen und ihn lächeln sehen wollen. Und wir legen Blumen auf Gräber, um zu sagen: Schau, wir denken noch an dich. Du hast eine Lücke hinterlassen.

Der vierzehnte Tag im Mai.
Der heißeste Tag des Jahres bisher, so wenigstens stand es in den Zeitungen. Unsere Rinder stampften mit den Füßen im Staub; unsere Schafe wurden geschoren. An diesem Morgen sah ich meinen ersten Maulwurf. Vom Treppenhausfenster beobachtete ich, wie unter dem Ahorn Erde aufgeworfen wurde, rannte hinaus und entdeckte ihn. Auf der Suche nach Wasser, vermutete mein Großvater. Er kam mir so verletzlich vor.
Am Nachmittag gingen wir schwimmen, Daniel und ich. Er sagte, dass meine Großeltern eine Stunde ohne ihn auskommen könnten, und so klemmte ich mir ein Handtuch unter den Arm und folgte ihm über den Pfad neben den Brombeerhecken und zwischen den Schafen hindurch. Das Wetter war drückend und klebrig-schwül. Im längeren Gras störten unsere Schritte Schnaken auf, und sie erhoben sich schläfrig und schwebten davon wie losgelassene Luftballons. Mir war zu heiß, um ihnen nachzujagen. Ich trottete bloß hinter Daniel her, dessen weißes Hemd unten am Rücken dunkler war.
Der See war rund wie ein Penny und genauso bronzefarben. Ich plantschte im Seichten herum und sah zu, wie Daniel sich ins dunklere Wasser hinaustreiben ließ. Es hieß, dass Hechte im See lebten und Barsche. Und ich hatte gehört, dass diese Seen tief waren, riesige Becken voll schwarzem Wasser, das schon seit Jahrhunderten da war. Alles Mögliche konnte sich da drinnen verstecken. Daniel glitt auf dem Rücken in die Ferne, und ich dachte: Schwimm nicht so weit raus. Komm zurück, komm zurück.
Ich erinnere mich an diesen Nachmittag, weil ich so lange im Wasser saß, bis meine Fingerspitzen wie verschrumpelte Apfelbutzen aussahen. Während Daniel mit seiner Zigarette auf dem Rücken im Gras lag, gelang es mir, meinen ersten Stein übers Wasser hüpfen zu lassen. Auf dem Heimweg begannen die Mücken mich in die Kopfhaut zu stechen, also wickelte ich mir das Handtuch um den Kopf und ging mit seitlich ausgestreckten Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er lächelte darüber.

An diesem Nachmittag wurde Rosie zum letzten Mal gesehen. Sie strahlte Reverend Bickley an, als sie kurz vor vier auf ihren Rollschuhen an der Kirche vorbeirauschte. Um diese Zeit habe ich im Schiefer nach Gold gesucht. Wenn sie entführt wurde, wie man jetzt annimmt, muss das geschehen sein, als ich übers Wasser blinzelte, um Daniel beim Schwimmen zuzusehen. Die Wölbung seines Arms, sein stilles Dahingleiten. Ich erinnere mich auch, dass ich meine Mutter an diesem Tag nicht vermisst habe.

ZWEITES BUCH
Gespenster
In der Nacht bewegt sich mein Baby. Es ist so heiß im Haus, dass ich nicht schlafen kann, also liege ich mit weit offenen Augen im Dunkeln. Mein Baby will auch nicht schlafen. Es tritt mit seinem kleinen Fuß gegen meine Bauchwand, als wüsste es, dass ich ruhelos bin. Es tut mir Leid, möchte ich ihm sagen. Es tut mir Leid, dass ich nicht schlafe, und es tut mir Leid, dass es so heiß ist. Ich streiche mit den Fingerspitzen meinen geschwollenen Bauch entlang, als tastete ich eine Wirbelsäule ab. Ich frage mich, was es weiß. Leicht zu sagen, gar nichts, weil es noch ein Fötus ist, ungeboren. Aber während ich auf meinen eigenen Atem und das Bellen der Füchse horche, stelle ich mir vor, dass dieses Kind allwissend ist. Es kommt mir weise vor. Als sähe es alles, weil es in mir ist.
Mrs. Hughes hat sich schließlich das Leben genommen. Sie hat sich mit Schlaftabletten und Aspirin voll gestopft und mit zwei Flaschen Wodka und Rosies Baby-Album auf ihre seidene Bettdecke gelegt. Ihr Mann hatte inzwischen wieder geheiratet. Er kam nicht zum Begräbnis. Er hat nicht einmal Blumen geschickt.
Ich habe Angst. Es sieht mir nicht ähnlich, es sieht mir ganz und gar nicht ähnlich, das zuzugeben. Aber so ist es, ich kann nichts dagegen tun. Was ich für dieses Geschöpf empfinde - für dieses kleine Bündel, das mir seine Fäuste in die Rippen bohrt, das mir Sodbrennen verursacht und geschwollene Beine, das mich zwei Monate lang so gierig auf Essig machte, dass ich ihn löffelweise schluckte, das noch keinen Namen hat, kein Gesicht, noch gar nichts -, es ist zu viel, um damit fertig zu werden, jetzt schon. Ich habe nichts gewusst bisher. Ich habe keine Ahnung gehabt, was Angst ist, bisher. Was habe ich empfunden, als eine unerwünschte Hand meinen acht Jahre alten Rücken entlangfuhr und noch weiter hinunter? Eine schwache, diffuse Version von dem, was ich jetzt empfinde. Was ich mit neunzehn auf dem Weg zum Krankenhaus empfand, nachdem meine Großmutter auf der Straße zusammengebrochen war, war stärker gewesen - das war eindeutig Angst gewesen, denn ich wollte nicht, dass sie starb, ich war nicht bereit dafür, und ich wollte mich nicht zu meinem Großvater umdrehen, der im Wartezimmer stand, ihm in die Augen blicken und ihm sagen müssen, dass sie tot ist. Ja, das war Angst gewesen. Und Angst ist es auch, was jedes Mal in mir aufsteigt, wenn Daniel sich verspätet. Der Gedanke flattert in mir hoch wie eine Fledermaus in der Dämmerung - was würde ich tun? Was würde aus mir werden? Die Frage lässt mir den Atem stocken.
Nichts macht mehr richtig Freude, hatte mein Großvater zu mir gesagt, nachdem er Witwer geworden war. Man kann hin und wieder schmunzeln - auch das Lachen kehrt nach einer Weile zurück, die Welt ist immer noch schön, und man lernt es wieder, sich über kleine Dinge zu freuen. Aber wirkliche Freude verlässt einen. Etwas fehlt von da an, sagte er. Mrs. Hughes hat das wohl auch erfahren.
Aber was mich am meisten ängstigt, mehr als alles andere, ist die Vorstellung, dass ich es verlieren könnte. Dass ich es im Stich lassen könnte. Dass ich ihm genau in dem Augenblick, auf den es ankommt, in dem es mich braucht, den Rücken zuwenden könnte, und dann wäre es fort, mein Kind. Mein strampelndes Rehlein. Mein zweiter Herzschlag. Wie hat meine Großmutter das ertragen? Wie hat sie es geschafft, sich nicht aufzulösen, nicht verrückt zu werden?
Ich wünschte, ich könnte jetzt mit ihr sprechen. Erst jetzt kann ich es verstehen. Und ich würde ihr gerne danken, denn ich glaube nicht, dass ich das je getan habe.
Sie war eine bemerkenswerte Frau. Ich weiß inzwischen, dass ihr Leben von einer tiefen Traurigkeit überschattet war, viel mehr als irgendjemand bemerkte. Und trotzdem sang sie leise vor sich hin und vergaß nie einen Geburtstag.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.08.2005