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Leitartikel
Viel zu wenig - viel zu viel

Die »German
Angst« - wer
meistert sie?


Von Rolf Dressler
Eine junge Frau aus Frankfurt am Main namens Charlotte Böhmer traute sich dieser Tage. In einem Leserbrief an eine überregionale Zeitung tat sie öffentlich und erfrischend offen kund, was die im Ausland spöttisch so genannte »German Angst«, die manische Furcht der Deutschen vor (fast) allem und jedem, in den Köpfen und Herzen der Menschen anrichtet. Ein vielsagendes Spiegelbild, in dem sich ungezählte Menschen wiedererkennen dürften - sofern sie selbstkritisch-ehrlich empfinden und urteilen.
Mehr noch: Jene Charlotte Böhmer erklärt und begründet beeindruckend präzise, warum sie im Jammertal Deutschland bis auf weiteres Kinder nicht zur Welt bringen möchte. Dabei nimmt sie sehr treffend den Zeitgeist-Hang zu Negativ-Superlativen ins Visier.
Tagtäglich, wer spürt das nicht zumindest unterschwellig, wird beklagt, dass der Rabenvater Staat (der doch irgendwie wir alle sind) viel zu wenige Betreuungsplätze in Kindergärten und erst recht in Babykrippen bereithalte. Und Hören und Sehen sollen uns auch bei vielen anderen »beliebten« Hiobsnachrichten vergehen: dass Deutschlands Schulen und Schüler aufs schwerste an den Ursachen von »Pisa« und deren Folgen leiden; wie »katastrophal« (Alarm, SOS!?) »schon wieder einmal« der Lehrstellenmangel sei; dass den Rentenkassen womöglich schon morgen gar der »Bankrott« drohe - undsofort.
Doch auch damit geben sich die Steuerleute der »German Angst«-Maschinerie in Politik, Presse, Funk und Fernsehen noch keineswegs zufrieden. Wie besessen heizen sie den Deutschland-Dampfkessel bis über den Siedepunkt hinaus auf.
Ebenso wie die junge »Vorerst-noch-nicht-Mutter« Charlotte Böhmer aus Frankfurt müssen Land und Leute sich groteskerweise vorhalten lassen, dass der existentielle Mangel in einem Überangebot bestehe: zu viele Kinder, gemessen an den Kinder- und Babyhortplätzen; viel zu viele Jugendliche für die zu wenigen Lehrstellen; zu viele bereits Ausgebildete angesichts der Arbeitsplatznöte; und, nicht zu vergessen, zu viele Rentner und Pensionäre...!
Und zur Krönung dann der Generalvorwurf (ja, an wen eigentlich genau?), dass es in der Dritten und Vierten Welt entschieden zu viele Menschen gebe. Wäre es nicht längst an der Zeit, derlei Schrägsicht geradezurücken und düstere Begriffe neu zu fassen: statt »Überbevölkerung« »Lebensmittelmangel«; »Lebenshilfe« statt »Sterbehilfe«; »Hausfrau und Mutter« statt »Nur-Hausfrau« usw.
Übrigens hat der Schöpfer den Menschen ganz gewiss nicht zu dem Hauptzweck erschaffen, dass er zeitlebens nur ja treu und brav Beiträge in die staatlichen Rentenkassen und die sonstigen Sozialsysteme einzahlt. Und ebensowenig dafür, dass die Pflege alter Menschen beschämend schlechter bezahlt wird als etwa das Entwerfen von Autos.
Meistern wir also die »German Angst«, könnte vieles wieder besser werden im Lande »D«.

Artikel vom 17.08.2005