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Das Mädchen war älter als ich - älter und doppelt so groß. Sie hatte geschminkte Lippen und den Rock hochgerollt, um ihre Knie zu zeigen. Ich sah zu, wie sie Hüfte wackelnd auf meinen Tisch zusteuerte, beide Hände vor mich hinlegte und sich zu mir herunterbeugte. Ihr Parfum war sehr stark. Der Lack auf ihren Fingernägeln war abgesplittert. Ich war verwirrt. Sollte ich sie kennen? Ein Tisch voller Jungs sah zu uns herüber.
»Was hast du da für Krätzen am Mund? Bist du aussätzig?«
Vor Jahren hatte sich ein Junge aus der anderen Klasse auf dem Schulhof in Birmingham über meinen Ausschlag lustig gemacht. Ich hatte ihn gebissen. Ich hatte meine Milchzähne tief in seinen stämmigen Arm versenkt. Er hatte geschrien und nach mir geschlagen. Aber mein Werk war schon vollbracht. Ein roter, eingedellter Halbkreis schwoll auf seinem Arm an und bekam die Farbe einer zerquetschten Banane. Und ich bekam ernsthafte Schwierigkeiten. Es kamen Briefe nach Hause, ich durfte vierzehn Tage lang in der Pause nicht auf den Schulhof, und der Junge musste fast eine Woche einen Verband tragen. Aber die Sache war es wert gewesen. Ich hatte mich für sehr schlau gehalten, damals. Er hatte sich über meine Haut lustig gemacht, und ich hatte seine Haut beschädigt. Gewalt hatte in diesem Fall funktioniert.
»Ich rede mit dir! Bist du taub? Byddar? Ob du aussätzig bist, hab ich gefragt.«
Und dann war da noch diese Sache im Winter gewesen, als mein Ausschlag ganz schlimm war und eine Frau im Bull Ring sich die Hand über Mund und Nase gelegt hatte, als sie an mir vorüberging. Als wäre ich ansteckend. Ich rächte mich, indem ich mich wie ein Kobold an ihre Fersen heftete, ihr meinen Atem ins Gesicht blies, sie an den Ärmeln zupfte, und als sie entsetzt zurückwich, reizte es mich umso mehr. Meine Mutter hatte mich schließlich weggezogen und an diesem Tag nicht mehr von ihrer Seite gelassen. Ich hatte diese Frau im Bull Ring gehasst. Am liebsten hätte ich sie auch gebissen.
»Soviel ich gehört hab, bist du sowieso ein diebischer irischer Bastard«, schnurrte das Mädchen, »und dann auch noch« - sie lächelte - »aussätzig.«
Ich stürzte mich auf sie. Ich packte sie bei den Haaren und riss sie ihr büschelweise aus. Ich kratzte ihr mit meinen abgekauten Nägeln übers Gesicht. Sie schlug und fuchtelte wild um sich, aber meine Faust schoss hoch wie aus dem Nichts, und ich rammte sie ihr in die Brust. Ich drosch auf sie ein, wie ich es gelernt hatte - Hände zu Fäusten geballt, Daumen oben, alle Kraft aus dem Ellbogen holend - und schlug und schrie und schlug und schrie. Sie keuchte. Mein Wasserglas fiel und zersplitterte, mein Besteck landete klirrend auf dem Boden. Stühle wurden zurückgestoßen, als ich abermals ausholte. Ihr Gesicht war rot und verschwitzt. Sie versuchte, Reißaus zu nehmen, aber ich schnappte sie am Pullover. Bevor ich selbst an den Schultern gepackt und weggezogen wurde, erwischte ich noch eine Hand voll Quiche und schmierte sie ihr in die Haare. Ich schrie sie an, und sie zitterte. NimmÕs zurück, kreischte ich, nimmÕs zurück. Die ganze Kantine brüllte.
Als ich, außer Atem, zurückstolperte, sah ich Rosies Gesicht in einer Ecke der Kantine - blass, ausdruckslos, schöner als alle anderen. Und ich sah auch, dass sie der einzige Mensch hier war, der keine Angst hatte.

Ich saß im Zimmer der Direktorin und schlenkerte mit den Beinen. Sie sprach eine Stunde auf mich ein, zweitausend Zeilen Strafarbeit, vierzehn Tage Nachsitzen, einen Monat lang keine Pausen und ein gepfefferter Brief an meine Großeltern. Da es jedoch meine erste Woche an der Schule war, sei sie bereit, mir noch eine Chance zu geben. Aber nur eine, warnte sie.
»Es ist mir egal, was du durchgemacht hast, Miss Jones, ein solches Benehmen dulde ich kein zweites Mal. Hast du mich verstanden? So geht das nicht!«
Sie trug eine Brille mit rechteckigen Gläsern. Ein Auge bewegte sich kaum - der Blick klebte an einem Punkt hinter meiner Schulter, als ginge das Gerücht, dass es mich doppelt gäbe. Ich nickte pflichtschuldig. Sie hatte Augenbrauen wie Schneckenspuren, die in der Mitte aufeinander trafen.
Im Bus nach Hause stellte ich fest, dass ich mir bei dem Kampf ein zweites Loch in die Tasche gerissen hatte. Auf diese Weise verlor ich während meiner Zeit in St. BartÕs eine Menge Geld.

Die Rauferei hatte ihre Folgen. Jahre später, als wir beide schon auf die zwanzig zugingen, erzählte Gerry mir, dass er das Ganze durchs Kantinenfenster verfolgt hätte. Ich hatte keine Ahnung davon gehabt. Er sagte, er hätte mich bis dahin für verletzlich gehalten. Ich zwinkerte, lachte und fragte mich, wie er je so etwas gedacht haben konnte. Verletzlich, fragte ich ihn. Warum?
Jedenfalls hätte er mich von dem Tag an anders gesehen, erklärte er. Ob in einem besseren oder schlechteren Licht, weiß ich nicht, ich habe nicht gefragt. Aber ich wusste, dass er Gewalt hasste. Er hatte sie zu Hause gesehen, jetzt hatte er sie auch in der Schule gesehen. Jagten meine Fäuste ihm Angst ein? Oder hatte es ihn erstaunt, ein Mädchen so raufen zu sehen - ein verschwommener Fleck von Gliedern und Haarnadeln? Auf jeden Fall sind wir noch immer Freunde. Und eines haben wir beide daraus gelernt: dass es nur eines einzigen Vorfalls bedarf, um einen Menschen plötzlich anders zu sehen.

Daniels Meinung war mir immer schon wichtig, auch damals, als ich erst acht war. Ich wünschte mir, dass er mich wirklich mochte. Was immer ich tat, im Hinterkopf war stets der Gedanke: Wird er das gutheißen? Natürlich dachte ich das auch nach der Rauferei und fürchtete, dass ich ihn verlieren könnte. Auf der Heimfahrt im Bus konnte ich nichts anderes denken als: Bitte hass mich nicht.
Nach unserem ersten Kuss vor zwei Jahren aber lautete die einzige Frage von Bedeutung: Wann habe ich aufgehört, ein Kind für ihn zu sein? Wann wurde ich für ihn zur Frau? Wann sah er mich zum ersten Mal so, wie ich jetzt bin?
An einem faulen Sonntagmorgen vor nicht allzu langer Zeit drehte ich mich zu ihm und fragte ihn. »Daniel«, sagte ich, »wann genau habe ich aufgehört, eine Achtjährige für dich zu sein?« Ich glaube, ich hatte gar nicht mit einer richtigen Antwort gerechnet, aber ich bekam eine.
»Als du von der Universität zurückkamst«, antwortete er. »Wie du da mit allen deinen Taschen die Zufahrt heraufgekommen bist - das Haar bis über die Schultern -, weißt du noch? Eve, du kannst dir nicht vorstellen É«
Natürlich kann ich mich erinnern. Ich weiß noch genau, wie mir der Rücken wehtat, ich erinnere mich an den Nieselregen und an das Pochen von meinem Piercing oben am Ohr. Ich hatte die Universität seinetwegen verlassen. Ich hatte begriffen, dass ich nirgendwo sein wollte, wo er nicht war, dass ich es körperlich nicht ertragen konnte. Ich war achtzehn; er war Anfang dreißig. Ich kam die Straße herauf und sah ihn dort unter den Linden stehen. Er trug Blau.

Hotel Forellenhof

Auf einem aufgeweichten Porter-Bierdeckel:

Hotel Forellenhof, Llandysul, 12. Februar
»Für Ziele, zu denen das Herz nicht rät, ist es zu spät.«

Eine Zeile aus einem Gedicht? Würde ihr das nicht ähnlich sehen, der romantischen Seele, sich in ihrer Verliebtheit der Poesie zuzuwenden? Und wenn ja, hat sie diese Zeile selbst entdeckt, oder von meinem Vater gehört und aufgeschrieben, während er zur Jukebox ging oder zur Bar? Ihre Handschrift jedenfalls. Der Deckel riecht nach abgestandenem Bier und Zigaretten, sogar jetzt noch. Ich hatte einmal geglaubt, auch einen Hauch von Jasmin daran zu entdecken, aber das muss ich mir eingebildet haben. Ich nehme ihn in die Hand, halte ihn an die Nase und atme tief ein - der Geruch ist nicht da. Mein Baby und ich können keinen Jasmin riechen. Es ist nichts Blumiges an einem Bierdeckel, der neunundzwanzig Jahre lang in einer Schuhschachtel gelegen hat.
Sind sie in jener Nacht dort geblieben, in dem Hotel? Wenn ja, auf wessen Initiative? Unter weißen Laken in einem Zimmer mit braunen Tapeten.

Sonnenbrand
Alle erfuhren von meinem Kampf.
Wie jede schlechte Nachricht drang auch diese durch sämtliche Türen. Meine Großeltern waren nicht erfreut - wir ziehen da einen Raufbold groß, zischte meine Großmutter, Hände in die Hüften gestemmt und mit zerrauftem Haar. Ich versuchte, ihr meinen Standpunkt klar zu machen. Das Mädchen habe die Schläge verdient, erklärte ich, weil es gemein gewesen sei. Wilfred, erklärte ich, hätte dasselbe getan. Aber es nützte alles nichts. Zur Strafe musste ich vierzehn Tage lang um acht ins Bett und durfte nicht einmal das Licht brennen lassen - eine grausame Strafe bei dem schönen Wetter. Sogar Mücken blieben länger auf als ich. Ich schmollte. Ich dachte an Billy, der allein herumsaß. Eigentlich hatte ich noch so gut wie nichts aus ihm herausbekommen, und das ärgerte mich. Wenn jemand an meine Tür klopfte, brüllte ich: Lasst mich in Ruhe! Ich will nichts hören! (wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.08.2005