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Sollte das ein Vorgeschmack darauf sein, was sie in der Pubertät von mir zu erwarten hätten, würde sie mit fünfundsechzig an einem Nervenzusammenbruch sterben, beklagte meine Großmutter sich bei Daniel.
Mr. Phipps war selbstgefälliger denn je, als ihm zu Ohren kam, dass ich von meinen Fäusten Gebrauch gemacht hatte. Hab ich also Recht gehabt, sagte er. Sooft er mich sah, grinste er höhnisch - die knollige Nase warf Runzeln und die Lippen kräuselten sich. »Na, was hab ich gesagt?«, fragte er Mrs. Hughes. »Hab ich es nicht gesagt?«
»Ja, haben Sie«, antwortete sie weise.
»Und das ist nur der Anfang, da bin ich sicher. Schlechtes Blut É«
»Zweifellos!«
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir noch mehr Scherereien mit ihr kriegen. Das sag ich Ihnen. Ich sagÕs Ihnen.«
Woher ich das weiß? Gerry hat sie belauscht. Er betrachtete es als seine Pflicht, mich zu unterrichten - weil du meine beste Freundin bist, sagte er mit einem Achselzucken. Lieber Gerry. In mancher Hinsicht hatte er mehr von einem Mädchen an sich als ich mit meinen wilden Haaren und meinem eckigen Kinn, der keiner das Wasser reichen konnte, wenn es darum ging, auf Bäume oder über Zäune zu klettern. Gerry hingegen war zart, fast schmächtig, mit Augen groß wie Pfützen und zum Rennen gänzlich untauglich. Seine Beine hampelten ziellos dahin, so dass er aussah wie eine in Panik geratene Schnake. Ich gewann alle unsere Wettrennen. Und ich brüstete mich noch damit - du bist so langsam, sagte ich. Was blieb ihm anderes übrig, als mir Recht zu geben?
Er ist nie mein bester Freund gewesen. Ist das lieblos von mir? Es ist die Wahrheit. Natürlich stehen wir uns jetzt, wo wir dasselbe durchgemacht haben, näher. Dieser Sommer mit seiner Hitze und seinem Feuer und seinem Kummer hat uns in gewisser Weise zusammengeschmiedet. Aber damals sah ich in ihm nicht mehr als einen Jungen, den ich jagen und mit dem ich die Birnen im Garten des Reverends stehlen konnte. Und er hat ein paar Spiele erfunden, die mich wirklich beeindruckt haben - Mrs. Hughes unter den Rock zu gucken, den dürren alten Hund von Mrs. Jessop so lange zu ärgern, bis er sich heiser bellte und sie Fäuste schüttelnd und zornbebend aus dem Laden gestürmt kam. Außerdem hat er mir im Walisischunterricht beim Schwindeln geholfen, indem er seinen Zettel fächelte, wie um die Tinte trocknen zu lassen, und ihn dabei so hielt, dass ich die Antworten lesen konnte. Das war schon einiges wert.
Als Gegenleistung habe ich ihm die Schäferhütte gezeigt, ihm die Aussicht geschenkt, die Torfmoore, Tor-y-gwynt. Ich glaube, seine Wanderlust wurde auf unserem Bergkamm geboren. Da stand er mit weit ausgebreiteten Armen, schöpfte tief Luft und lächelte. Er liebte das. Wenn der Abend kam, sah er mich dankbar an. Da oben spürte er die Freiheit, oder was ein Kind sich darunter vorstellt.
Als Daniel von der Rauferei erfuhr, versuchte er ein Lächeln zu verbergen. An einem der folgenden Abende ging er mit mir zum Brych hinunter und hörte sich ernst meine Klagen an. Ich erklärte ihm, wie unfair es gewesen sei, dass die ganze Schule zugeguckt hätte, und was hätte ich da anderes tun können? »Das nächste Mal gehst du einfach weg«, sagte er.
Einfach weggehen? Das schien mir leichter gesagt als getan - wie sollte man nach derart höhnischen Bemerkungen einfach weggehen? Aber er sah so hübsch aus, wie er da am Ufer saß, von der Sonne gebräunt und so natürlich, und seine Augen waren grau und sanft wie Taubenflügel, und ich war glücklich, allein weil ich hier neben ihm saß, und so blickte ich zu ihm auf und sagte ja, ja und versprach ihm, beim nächsten Mal einfach wegzugehen. Ja. »Ich werde mich nie wieder mit jemandem prügeln«, sagte ich, »nie wieder.«
Ein Versprechen, das ich gehalten habe. Ich habe bis zum heutigen Tag nie wieder jemanden geschlagen. Aber was, wenn ich es getan hätte? Was, wenn ich dieses Versprechen gegeben und sechs Wochen später gebrochen hätte? Gebrochen wie einen Zweig, den man über dem Knie knickt? Wenn ich Kratzer oder Bisswunden hätte erklären müssen?
Was wäre gewesen, wenn É? Eine Frage, die wir uns stellen, um uns selbst wehzutun.

Der Mai kam mit Schwaden von Fliegen ins Land. Sie waren eine Plage für die Kühe, denen sie in ganzen Nestern um die Augen herum klebten, und die Wespen waren überall. Sie krochen über die Blumen auf den Gräbern, und im Garten des »Weißen Hirschen« hörte das Summen überhaupt nicht mehr auf. Ich wurde von einer gestochen. Ich hatte sie im Hundenapf entdeckt und hineingegriffen, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Sie drückte mir ihren Stachel genau in den Daumen, und ich schrie nach meiner Mutter. Mein Daumen schwoll an wie eine Pflaume. Was war das für eine Gerechtigkeit? Von dem Tag an machte ich Jagd auf Wespen, und wenn ich sie erschlagen konnte, tat ich es.
Die Männer begannen mit bloßem Oberkörper zu arbeiten, aber Billy behielt trotz der Wärme seine grüne Wachsjacke an. Ich sah ihn manchmal oben am Tor-y-gwynt, mit Halt suchend in die Luft greifenden Händen, wenn er Sumpfpfützen auswich, die Jacke flatternd um die Hüften. Als ich ihn eines Abends, ein paar Minuten vor Beginn meiner Ausgangssperre, auf unserer Straße traf, fragte ich ihn.
»Ist es dir denn nicht heiß in dem Ding?«
Er musterte mich, als hätte ich ihm eine Fangfrage gestellt. Vielleicht glaubte er, ich würde ihn boxen, wenn die Antwort falsch war. »Nein É«
Ich zuckte die Achseln. »Na ja, wenn duÕs sagst.«
Er nestelte eine zarte violette Blume aus der Tasche. »Stiefmütterchen«, sagte er, »amoureuses pensées für liebevolle Gedanken.« Und ich sah sein langsames Lächeln, und mein Blick folgte ihm, als er die Straße hinunterging und verschwand.
So kannte man ihn. Mit einer Wachsjacke mitten in einer Hitzewelle; ein nicht zu deutender Blick und ein zweifarbiges Gesicht. Er sammelte Blumen, als gehörten sie ihm - als wären sie etwas, was er einmal besessen und dann verloren hatte. Da bist du ja, sagte er und griff hinunter ins Gras.
Ein paar Tage später in der Dunkelheit der verlassenen Scheune fragte ich ihn, während ich den Apfel aß, den ich unter meinem Hemd aus dem Haus geschmuggelt hatte, warum er zu der Scheune käme. Ich sollte eigentlich in der Schule sein. Ich trug meine Tracht, hatte die Schuhe ausgezogen und war aus den Socken geschlüpft. Am Abend würde ich eine Entschuldigung von meinem Großvater fälschen. Evie war krank. Ich war sicher, dass ich es gut genug hinkriegen würde.
»Warum kommst du eigentlich hierher, wenn du doch ein Haus hast?«
Er hatte sich die Kopfhaut verbrannt - ein Beweis dafür, dass der Sommer gekommen war. Trotz der Dunkelheit konnte ich sehen, wie rot sie war. Ich kannte das Gefühl von Sonnenbrand. Wenn man die verbrannte Haut drückt, wird sie für ein oder zwei Sekunden ganz weiß. Würde er jetzt auch Sommersprossen kriegen?
»Hierher? Zur Scheune?«
»Ja. Warum?«
Er musterte mich. »Es ist friedlich hier. Es kommt sonst niemand her.«
»Wie hast du sie entdeckt?«
»So, eben.«
Ich grub meine Zähne in den Apfel. »Wann?«
Ein misstrauischer Blick. »Schon vor einer Ewigkeit.«
»Ich hab nämlich keine Ahnung gehabt. Ich hab sie nur gesehen, durch die Bäume. Wem gehört sie? Weißt duÕs?«
Billy schüttelte den Kopf. Nach einer Weile rutschte er ein bisschen zur Seite und sagte: »Du hast also jemanden geschlagen.«
Keine Frage, eine Feststellung. Woher wusste er das? Wie konnte Billy diese Neuigkeit so schnell erfahren haben, wenn keiner ihn je sah und keiner mit ihm sprach? Ich schlug mit der Hand auf den Boden und wirbelte eine Staubwolke auf. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte es nicht gewusst. »Sie hat es verdient.«
Lächelte er in der Dunkelheit? Wenn ja, war es nur das Gespenst eines Lächelns. »Du wirst keine Freunde haben.«
»Was? So wie du?«
Keine Antwort.
»Du hast doch keine. Oder? Hast du Freunde?«
»Ich bin glücklich so«, sagte er.
Das glaubte ich nicht. Jeder Mensch braucht Freunde. Ich wusste, dass ich nicht viele hatte, das war nie der Fall gewesen, aber ich hatte meine Mutter gehabt, und jetzt hatte ich meine Großeltern und Daniel. Das war genug. Aber niemanden zu haben? Keinen einzigen Menschen, mit dem man reden kann? Nicht einmal ich hätte das gewollt. Das wäre wirkliche, schreckliche Einsamkeit.
»Du kannst nicht glücklich sein! Das kannst du nicht! Fehlt dir denn niemand?«
Ich spürte, wie seine Stimmung sich trübte. Er wühlte in seiner linken Jackentasche und holte etwas Silbriges hervor, das er lange betrachtete. Es schien mir am besten, eine Weile nichts zu sagen.
Schließlich brach ich das Schweigen mit den Worten: »Du hast dir den Kopf verbrannt. Weißt du das? Du bist ganz rot.«
Er seufzte.
»Nicht da! Da.« Ich deutete auf seinen Schädel. »Soll ich dir eine Creme bringen? Wir haben Sonnencreme zu Hause. Ich muss mich auch immer einschmieren. Sonst würde ich mich verbrennen. Das liegt an meiner Haut. Ich bin ein keltischer Typ.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.08.2005