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Eine lange Feier nach
dem Wahnsinns-Wurf

Christina Obergföll wirft über ihren Traum hinaus

Helsinki (dpa). Speerwurf-Europarekordlerin Christina Obergföll hat nach ihrem sensationellen Volltreffer Lust und Last zugleich gespürt. »Ich weiß nicht, wie oft einem so ein Wurf im Leben rausrutscht«, sagte die 23 Jahre alte Vizeweltmeisterin.
»Man kann jetzt nicht von mir erwarten, dass ich jeden Tag 68 Meter werfe. Aber ich hoffe, das war noch nicht alles«, fügte sie hinzu. Der große Coup am Schlusstag der Leichtathletik-Weltmeisterschaften ist mehr gewesen, als sie zu träumen gewagt hat. »Das ist der absolute Wahnsinn und es wird Tage dauern, bis ich es wirklich begreife.«
Tatsächlich war das Finale unfassbar. Denn mit ihrem zweiten Wurf über 70,03 Meter stellte Christina Obergföll die Speerwurf-Welt auf den Kopf. Mit ihrer um 5,44 m gesteigerten persönlichen Bestleistung verbesserte sie nicht nur den deutschen Rekord der Berlinerin Tanja Damaske (66,91 m) und die kontinentale Bestmarke der Norwegerin Trine Hattestad (69,48 m). Olympiasiegerin Osleidys Menéndez aus Kuba »musste« mit 71,70 m schon Weltrekord werfen, um zu gewinnen.
Mit ihrem Silber-Wurf hat Christina Obergföll erstmals die national bisher unantastbare Steffi Nerius, die Bronze erhielt, geschlagen. »Ich habe auf den Tag gewartet, an dem ich gegen sie gewinnen kann«, sagte die neue Nummer 1 in Deutschland von der LG Offenburg. »Ich hoffe, dass sie nächstes Jahr nicht 72 Meter wirft«, meinte Steffi Nerius. Die 33-jährige Leverkusenerin hat nicht nur Respekt vor ihrer gut neun Jahre jüngeren Konkurrentin, sondern staunt auch über deren unorthodoxen Wurfstil. »Wenn ich sie werfen sehe, frage ich mich, warum ihr nichts weh tut. Das sieht zerreißend aus.«
Entdeckt wurde die frühere Siebenkämpferin Obergföll vor sieben Jahren von Werner Daniels, der ebenfalls überwältigt wurde. »Wir hätten auch mit 65 Metern und Platz vier ein Riesenfest gemacht. Das war der optimale Wurf«, sagte der baden-württembergische Landestrainer und fügte verdattert an: »Ich stehe hier und weiß auch nicht, was ich machen soll.«
Der Erfolg ist nicht vom Himmel gefallen. »Sie kann sehr konzentriert sein, hart arbeiten und hat einen starken Ehrgeiz«, beschreibt Daniels seine Musterschülerin. Dabei wurden die Trainingsmethoden des Speerwurf-Autodidakten oft belächelt. »Christina macht nur 170 Würfe in der Woche, normal sind 600«, sagte Daniels. Ex-Weltrekordlerin Petra Felke habe sogar 1000 gemacht.
»Wir haben im Training noch einige Reserven, vor allem im Kraftbereich«, berichtete Daniels, der die Trainingsintensität aber behutsam steigern will: »Wir machen jedes Jahr eine Schublade auf. Christina Obergföll wird auch mal wieder nur 63 Meter weit werfen, denn so eine ausgereifte Athletin ist sie noch nicht.« Nach getaner Rekord-Leistung wollte die Studentin für Sport und Englisch aber nichts von der Trainingsfron hören: »Jetzt feiere ich, und zwar die ganze Nacht durch.«

Artikel vom 16.08.2005