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Schleichwerbung für
den Kanzler Schröder

Matthias Politycki kritisiert den »Wahlhelfer« Grass

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Die Einweihung der Skulptur »Verknotete Pistole« am Sonntag im Park des Bundeskanzleramtes ist ein abgekartetes Spiel. Mit Günter Grass hält ausgerechnet der selbst ernannte Wahlhelfer von Gerhard Schröder die Rede.
Günter Grass geht für die SPD auf Tour. Foto: dpa

Die Skulptur des schwedischen Künstlers Carl Fredrik wirbt für den Frieden. Kanzler Gerhard Schröder lässt sich gern als derjenige feiern, der die aktive Teilnahme Deutschlands am Irak-Krieg verhinderte - und dafür hat ihn Günter Grass mehrfach gelobt. In der vergangenen Woche stellte der Literaturnobelpreisträger in Lübeck die Gleichgesinnten vor, die sich bei Lesungen und Podiumsdiskussionen für die SPD ins Zeug legen wollen. Dazu gehören Peter Rühmkorf, Erich Loest, Tilman Spengler, Johano Strasser und Benjamin Lebert.
Dass sich Literatur in dieser offenen Weise einmischt, missfällt Matthias Politycki. Der Hamburger Autor von Romanen wie »Herr der Hörner« (Hoffmann und Campe), »Ein Mann von vierzig Jahren« und »Taifun über Kyoto« sagte gestern dieser Zeitung: »Schriftsteller dürfen sich politisch verorten, aber sie sollten sich nicht parteipolitisch vereinnahmen lassen.« Bei Grass und seinen Mitstreitern handele es sich »um eine SPD-Wahlkampfhilfetruppe«. Es sei Grass positiv anzurechnen, dass er sich Sorgen um das Land mache, aber er beschreite den falschen Weg.
Politycki (50) gehört der nach dem Schloss Elmau benannten Autorenrunde an, deren Mitglieder nicht Stimmen für eine Partei, sondern Ideen für eine bessere Politik sammeln. »Literatur soll Möglichkeiten für ein glücklicheres Leben aufzeigen, ohne an drängenden Problemen zu kleben«, sagte Politycki und ergänzte: »Die Arbeitslosen haben wir schon, die Visionen nicht.«
Dass der Kreis um Günter Grass die Bundestagswahl entscheidet, ist unwahrscheinlich. »Literatur hat keinen kurzfristigen Einfluss, der schriftstellerische Schnellschuss zum Wahlerfolg gelingt nicht«, erklärte gestern Gunther Nickel vom Deutschen Literaturfonds in Darmstadt. Grass beanspruche ein politisches Mandat und sehe sich in der Tradition von Autoren wie Carl Zuckmayer, die sich für die Weimarer Republik und gegen die drohende Diktatur der Nationalsozialisten einsetzten. Wichtiger für die Wahlerfolge der SPD in der Vergangenheit seien die Bücher von Johannes Mario Simmel gewesen, sagte der Wissenschaftler Nickel: In den Romanen würden nicht nur Liebesgeschichten erzählt, sondern auch aktuelle politische Fragen behandelt und den Lesern das sozialdemokratische Wertesystem angeraten. Schleichwerbung für Positionen der SPD finde sich zudem in der WDR-Seifenoper »Lindenstraße«, beklagt Nickel und folgert: »Drehbuchautoren haben heute einen größeren Einfluss als reine Schriftsteller.«
Wer als Literat für das geschriebene Wort einen gesellschaftlichen Anspruch erhebe, müsse aufpassen, nicht parteipolitisch in die Pflicht genommen zu werden, warnt Franz Kröger von der Kulturpolitischen Gesellschaft in Bonn. Allerdings fänden selbst namhafte Autoren in einer Zeit, in der das Thema Arbeitslosigkeit alles beherrscht, weniger Gehör.

Artikel vom 16.08.2005