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Obergföll überrascht nicht nur Nerius

Deutsche wirft Europa-, Kubanerin Menéndez Weltrekord - erstes WM-Gold für Radcliffe

Helsinki (dpa). Im spektakulärsten Speerwurf-Finale der Weltmeisterschafts-Geschichte hat Christina Obergföll mit 70,03 einen Europarekord aufgestellt und sensationell die Silbermedaille gewonnen.

Mit einer phänomenalen Steigerung ihrer persönlichen Bestleistung am Sonntag in Helsinki um 5,44 Meter übertraf die 23-Jährige von der LG Offenburg sowohl den deutschen Rekord von Tanja Damaske (66,91) als auch die kontinentale Bestmarke von Trine Hattestad (69,48 m/Norwegen). Für die insgesamt fünfte deutsche Medaille sorgte Steffi Nerius (65,96), die wie 2003 WM-Dritte wurde.
»Ich kann das überhaupt nicht fassen«, sagte Obergföll-Trainer Werner Daniels, »da musste ich zwei Mal auf die Bilder auf der Großleinwand schauen, um die richtige Linie zu erkennen.« Eine Sogwirkung für seine Schülerin hatte offenbar der Weltrekord der Kubanerin Osleidys Menéndez, die mit 71,70 m im ersten Wurf für einen Paukenschlag und die goldene Vorentscheidung sorgte. Die Athletin von der Zuckerinsel und Christina Obergföll sind die einzigen Frauen auf der Welt, die mit dem seit 1999 geltenden Speer jemals die 70-Meter-Barriere übertroffen haben.
Dabei hatte die Studentin für Sport und Englisch, die bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen noch in der Qualifikation ausgeschieden war, schon ziemlich Muffensausen vor der Ausscheidung und keinen Gedanken an eine Medaille verschwendet. »Ich weiß, wie lange Steffi daran gearbeitet hat, und sie ist neun Jahre jünger als ich«, sagte Christina Obergföll, die aber auch feststellte: »In diesem Jahr bin ich stabiler geworden, da kommen die Weiten.« Denn immerhin war sie als Vierte der Weltbestenliste mit 64,59 m zur WM gereist.
Auch für die mitfavorisierte Olympia-Zweite Steffi Nerius begann das Finale vielversprechend mit einem Wurf über 65,96 m. Doch der Weltrekord von Menendéz und der Superwurf ihrer nationalen Rivalin wirkten wie ein Schock auf sie, zerstörten ihren insgeheim gehegten Traum vom Titel. Nach zwei ungültigen Versuchen kam sie danach nicht mehr über ihre Anfangsweite hinaus. »Ich schiele auf eine Goldmedaille«, hatte die 33-jährige Leverkusenerin zuvor gesagt.
Steffi Nerius hatte allerdings schon vor dem Finale zwei Treffer gelandet: Das Echo auf ihre scharfe und umstrittene Kritik an deutschen Verbandspräsidenten Clemens Prokop (»Er hat kein Interesse an der Leichtathletik«) hatte sie zwar in der Heftigkeit überrascht, nicht aber irritiert. In der Qualifikation stellte sie im ersten Versuch mit 66,52 Meter eine persönliche Bestleistung auf und war diesmal über sich selbst erschrocken: »Ich hatte gar nicht vor, so weit zu werfen.« Im Endkampf hätte sie aber wohl gerne noch einen drauf gelegt.
In Athen saß sie heulend am Straßenrand, in Helsinki lief sie lachend ins Ziel. Als Marathon-Frau Paula Radcliffe am Sonntag mit dem Union Jack im Olympiastadion eine Ehrenrunde drehte, hatte sich die Britin einen ganz großen Traum erfüllt. Die 31-Jährige gewann erstmals bei Weltmeisterschaften Gold und stellte mit 2:20:57 Stunden zudem einen WM-Rekord auf.
»Das war ein hartes Stück Arbeit, aber es hat auch ein bisschen Spaß gemacht. Ich wusste, dass ich gut im Rennen lag - ich musste einfach nur durchhalten. Ein großes Dankeschön an die finnischen Zuschauer, die mich das ganze Rennen über angefeuert haben«, sagte die erschöpfte, aber glückliche Siegerin, die »mindestens« zwei Bücher in der Woche liest.
Mit dem ersten WM-Gold geht eine lange Quälerei zu Ende. Bei den Olympia 2004 hatte Radcliffe sowohl im Marathonlauf (nach 35 km) als auch im 10 000-m-Rennen (nach 6500 m) aufgegeben. In Helsinki war sie vor acht Tagen über 10 000 m Neunte geworden.
Dem früheren Fußballer Jaouad Gharib fehlt noch ein WM-Titel zum Hattrick. Der 33 Jahre alte Marokkaner hatte am Samstag den Männer-Marathon in 2:10:10 gewonnen und seinen Sieg von 2003 in Paris wiederholt. Gharib ist erst der zweite erfolgreiche Titelverteidiger der WM-Geschichte in dieser Disziplin.

Artikel vom 15.08.2005