13.08.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Ein Bein ist noch zu viel

Nach 75 Jahren mit Prothese kein Anspruch auf Behindertenparkplatz

Von Christian Althoff
Salzkotten (WB). Vor 75 Jahren hat Maria K. bei einem Unfall ihren linken Unterschenkel verloren. Bis heute kämpft die 81-jährige Frau vergeblich darum, einen Behindertenparkplatz benutzen zu dürfen.

Maria K. ist mit vier Geschwistern in Salzkotten-Verne im Kreis Paderborn aufgewachsen, wo ihr Vater eine weithin bekannte Kunstschmiede betrieb. »Er hat auch die Kronleuchter angefertigt, die in der Wewelsburg hängen«, erzählt die Rentnerin.
1930 geschah im elterlichen Betrieb der Unfall, der das Leben der Frau verändern sollte: »Samstags wurden immer die Verkleidungen der Maschinen abgenommen, um die Mechanik zu schmieren«, erinnert sich Maria K., die damals sechs Jahre alt war. »Ich habe zu dicht an einem elektrisch betriebenen Schleifstein gespielt. Die Achse hat mein Kleid erfasst und mich herumgeschleudert.« Dabei wurde der linke Unterschenkel des Mädchens unterhalb des Knies abgerissen. Rehamaßnahmen oder eine Gehschule - das gab es damals nicht. »Ich habe eine Holzprothese mit Metallscharnieren bekommen und mir vorgenommen, mich nicht unterkriegen zu lassen und ein ganz normales Leben zu führen«, sagt Maria K.
Andere Kinder riefen ihr »Krüppelbein« hinterher, und nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten musste sich die Jugendliche regelmäßig bei einer Behörde in Büren vorstellen: »Das nannte sich Krüppelfürsorge, aber die prüften, ob ich noch als lebenswert galt«, erzählt die 81-Jährige, deren beruflicher Lebensweg kaum anders war als der ihrer Freundinnen: Sie erlangte die Mittlere Reife, besuchte die Handelsschule und arbeitet Zeit ihres Lebens in Behörden oder der Verwaltung von Unternehmen. Die Prothese hinderte die Frau auch nicht daran, nach dem Krieg mit anzupacken und in Paderborn Trümmer zu beseitigen. 1952 heiratete Maria K. ihren Mann Josef, einen Bundesbahner, der heute 84 Jahre alt ist, und zog in den Folgejahren drei Kinder groß.
»Ob Sie's glauben oder nicht«, erzählt Maria K. und strahlt: »Bis in die 80er Jahre sind mein Mann und ich jedes Wochenende zum Tanzen gegangen!« 15 Jahre gehörten beide dem »TC Blau-Weiß Geseke« an, wo sie es bis zum Tanzabzeichen in Gold brachten.
»Ich kam zeitlebens gut mit meinen Prothesen zurecht und habe niemals eine Kur oder Ähnliches in Anspruch genommen«, sagt die Rentnerin. Das änderte sich allerdings schlagartig, als die Frau am 24. März 2000 auf der Treppe ihres Hauses ausrutschte: »Ich stürzte, und meine linke Kniescheibe sprang heraus.« Von diesem Unfall, sagt die 81-Jährige, habe sie sich nie wieder erholt. »Meine Bänder sind bei dem Sturz gedehnt worden. Meine Kniescheibe hat keinen Halt mehr, und mein ganzes Bein ist instabil.« Immer wieder gebe das Knie plötzlich nach. »Ich lebe in der ständigen Angst, im nächsten Moment zu stürzen«, sagt Maria K. Weil das schon mehrfach passiert ist, hat die zu 80 Prozent schwerbehinderte Frau wiederholt beim Versorgungsamt in Bielefeld einen Ausweis beantragt, der ihr die Benutzung von Behindertenparkplätzen ermöglicht. »Dann müsste ich nicht so weit gehen, wenn ich mal in die Stadt fahre«, sagt sie. Zwar hat sie ihren Wagen schon mehrfach ohne entsprechende Berechtigung auf Behindertenparkplätzen abgestellt, aber die Rechnung kam jedesmal postwendend: »Ein halbes Dutzend Strafmandate über 35 Euro habe ich bestimmt schon bezahlen müssen«, sagt Maria K.
Eine Lösung scheint allerdings nicht in Sicht, denn die Behörde lehnt die Anerkennung der Frau als »außergewöhnlich gehbehindert« ab. »Wir können nicht anders«, sagt Versorgungsamts-Sprecher Andreas Kuhlmann. »Die bundesweit einheitlichen Vorschriften besagen, dass nur solche Menschen als außergewöhnlich gehbehindert gelten, die etwa querschnittsgelähmt sind oder beide Beine verloren haben.« So tragisch der Einzelfall auch sei: »Wir haben keinen Ermessensspielraums.«
Gegen diesen Bescheid hat Maria K. jetzt Widerspruch beim Landesversorgungsamt in Münster eingelegt. Die 81-Jährige ist verbittert: »Ich habe mein Leben alleine gemeistert und bin der Allgemeinheit nie zur Last gefallen. Jetzt bitte ich um einen Stempel in meinem Behindertenausweis, der den Staat keinen Cent kostet, aber mein Leben sehr erleichtern würde. Und das soll nicht möglich sein?«
Seite 4: Kommentar

Artikel vom 13.08.2005