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Verfassungsrichter uneins

Über Rechtmäßigkeit der Neuwahl soll schnell entschieden werden

Karlsruhe (dpa/Reuters). Das Bundesverfassungsgericht hat eine baldige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der für den 18. September angesetzten vorgezogenen Bundestagswahl in Aussicht gestellt. »Es könnte sein, dass es rasch geht«, sagte der Vorsitzende des Zweiten Senats des Gerichts, Winfried Hassemer, gestern nach der mündlichen Verhandlung.

In der Verhandlung sind kontroverse Positionen auch in Reihen des Karlsruher Richter deutlich geworden. Nach den Worten von Verfassungsrichter Udo Di Fabio ist die Einschätzung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), er habe keine gesicherte Mehrheit mehr, vom Zweiten Senat nur schwer überprüfbar: »Soll das Gericht in eine Beweisaufnahme eintreten?«, fragte Di Fabio, der als Berichterstatter für das Verfahren zuständig ist.
Sein Kollege Hans-Joachim Jentsch äußerte dagegen große Skepsis an der öffentlichen Begründung von Bundespräsident Horst Köhler für die Bundestagsauflösung: »Wenn das die Gründe sind, die den Bundespräsidenten bewogen haben, die Einschätzung des Bundeskanzlers hinzunehmen, hätte ich erhebliche Bedenken.« Mit knapper Mehrheit zu regieren, sei »das übliche politische Geschäft«.
Zum Auftakt der Verhandlung hatten die beiden klagenden Bundestagsabgeordneten davor gewarnt, dem Kanzler zu großen Spielraum für die Auflösung des Bundestags zu gewähren. Nach Ansicht des Grünen-Parlamentariers Werner Schulz hat Schröder nach wie vor den Rückhalt der Regierungskoalition. Es sei »ein reiner Verdacht und durch nichts belegt«, dass der Kanzler im Parlament keine Mehrheit mehr habe. Bislang sei jeder Gesetzentwurf des Kanzlers von der Koalition im Bundestag unterstützt worden. »Das gefühlte Misstrauen, der pauschale Argwohn sollte nicht Grundlage der Bundestagsauflösung sein.«
Die ebenfalls klagende SPD-Abgeordnete Jelena Hoffmann warf Schröder und der SPD-Führung vor, »Stimmung von oben« für die Neuwahl erzeugt zu haben. Der Versuch, per Neuwahl aus einer schwierigen politischen Situation herauszukommen, sei außerdem »gefährlich populistisch«. In ihrer emotional gehaltenen Argumentation sagte Hoffmann zudem: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Väter des Grundgesetzes, die Auflösung des Bundestages nur den bloßen Gefühlen des Kanzlers überlassen wollten.«
Nach Ansicht von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) müssen sich die Verfassungsrichter dagegen an Schröders Einschätzung orientieren. Schröder habe sich nach der Landtagswahl in NRW einer Mehrheit für seine Politik nicht mehr sicher sein können. Schily verwies auf das Grundsatzurteil des Karlsruher Gerichts von 1983: »Das Gericht hat seine Überprüfungsmöglichkeiten selbst zurückgenommen und das Primat der Politik anerkannt.«
In eine ähnliche Richtung gingen die Äußerungen Hassemers: Das Gericht befinde sich vor einem sehr komplexen Geflecht politischer, teils auf die Zukunft gerichteter Einschätzungen. Die Frage sei: »Wie weit darf das Bundesverfassungsgericht in fremde Einschätzungsspielräume eindringen?« Seite 4: Kommentar

Artikel vom 10.08.2005