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Der Angst »den Zahn ziehen«

Panik beim Zahnarztbesuch muss nicht sein - Bielefelder Praxis bietet Hilfe an

Von Larissa Kölling
Bielefeld (WB). Albträume vor dem Termin, schweißnasse Hände und Angst-Attacken. Viele Menschen fühlen sich schon vor dem Zahnarztbesuch unwohl. Zwischen fünf und zehn Prozent der deutschen Bundesbürger wagen sich nur in größter Not auf den Behandlungsstuhl. »Nicht selten führt das dazu, dass Betroffenen bis zu 15 Jahre lang keine Praxis mehr aufgesucht haben«, beschreibt Dr. Andrea Kühnert die unbefriedigende Situation einiger ihrer Patienten. Die Bielefelder Medizinerin versucht, die Angst vor dem Zahnarztbesuch zu vermindern oder zumindest erträglich zu machen - und das mit großem Erfolg!

Warme Farbtöne und eine gemütliche Einrichtung im Landhaus-Stil erwarten den Patienten in der Praxis. Keine starken medizinischen Gerüche schüren die Angst-Phantasien. Und auch die freundliche, lockere Art der Ärztin - ohne obligatorischen weißen Kittel - und ihres Team lassen eine fast gelöste Stimmung beim Patienten aufkommen. Kinder bevölkern die Praxisräume und niemand muss lange warten. Auch dadurch wird die familiäre und angstmindernde Atmosphäre dieses Konzeptes zusätzlich verstärkt.
Gut für jeden, der den Weg in die Praxis mitten in der Bielefelder Altstadt erst einmal gefunden hat. Viele Menschen wagen diesen Schritt jedoch über Jahre hinweg erst gar nicht.
Etwa 75 Prozent der Bevölkerung haben mittlere bis starke Angstgefühle, wenn sie zum Zahnarzt gehen, 12 Prozent sind an Oralophobie (Zahnarztangst, Dental- oder Zahnbehandlungsangst) erkrankt.
Was macht den Eingriff in den Mund zur so heiklen Sache? Zum einen ist der Mund für viele lebensnotwendige Wahrnehmungen und Funktionen zuständig -Ê vom Tasten und Schmecken bis zum Kauen und Sprechen. Zum anderen sammeln Kinder mit dem Mundorgan »vitalste Ersterfahrungen« und durchleben in der oralen Phase eine wichtige Entwicklungsstufe. Der Mund wird als »Intimbereich« empfunden.
Schlechte Erfahrungen bei einem Zahnarzt sind die häufigste Ursache für die Angst. Das können Schmerzen gewesen sein oder auch eine »Zwangsbehandlung« als Kind, die der kleine Patient nur mit Gewalt über sich hat ergehen lassen. »Aufklärung ist daher eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Behandlung aller Patienten«, erklärt Dr. Kühnert. Oftmals lassen sich die Angstpatienten nach mehreren Beratungsgesprächen dann auch problemlos »verarzten«.
Wer jedoch jahrelang den sinnvollen und notwendigen Praxisbesuch vor sich hergeschoben hat, der muss mit einer Komplettsanierung rechnen. »Dann ist vielfach eine Behandlung unter Vollnarkose sinnvoll. Oftmals müssen einige Zähne gezogen und diverse saniert werden. Dass funktioniert - zum Wohl des Patienten und des Arztes - am besten im Tiefschlaf«, sagt die Medizinerin. In ihrer Praxis hat die Anzahl dieser Behandlungen deutlich zugenommen. Ein bis zwei Tage im Monat, an denen sie fünf bis sechs Patienten auf diese Weise behandelt, sind keine Seltenheit.
Denn Schmerzen bei der Behandlung sind heute nicht mehr nötig. »Jedoch verlangen Patienten heute viel eher nach einer Spritze als früher«, beschreibt Dr. Kühnert die Entwicklung zu einer verweichlichteren, komplizierteren Gesellschaft.
Vielfach werden die Ängste der Eltern schon an die Kinder weitergegeben. »Da reicht schon eine Betonung und die Mimik, wenn den Kindern mitgeteilt wird ÝMorgen gehen wir zum ZahnarztÜ. Ehrlichkeit ist bei meinen kleinen Patienten besonders wichtig.« So erklärt die Ärztin jeden Behandlungsschritt genau und kündigt auch einen Pieks oder ein kleines Zwacken immer vorher an. »Kinder, die noch vor ein bis zwei Jahren lauthals schreiend die Praxis betreten haben, lassen heute die Behandlung ganz cool über sich ergehen«, freut sich Andrea Kühnert über den Erfolg ihres Konzeptes.
Und der hat sich in den vergangenen Jahren bereits in ganz Ostwestfalen herumgesprochen. »In den letzten sieben Jahren sind nur zwei Patienten nach den Aufklärungsgesprächen nicht mehr wiedergekommen«, lautet ihre Erfolgsbilanz. Und ist der »innere Schweinehund« erst einmal überwunden, dann sind regelmäßige Besuche zum Beispiel in dieser sympatischen Praxis besonders wichtig, denn wer jedes Halbjahr zur Routineuntersuchung geht, dem drohen am Ende keine bösen Überraschungen.

Artikel vom 12.08.2005