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Der Schulbus, der mich hinbrachte, war ein klappriges dunkelgrünes Vehikel, das nach Jugendlichen roch - nach Babypuder, Antiseptika, Füßen, billigem Rasierwasser, Pfefferminzkaugummi zwischen Schülerzähnen. Manchmal auch nach Zigaretten. Die Stufen waren verdreckt vom Lehm an Fußballschuhen, und an regnerischen Nachmittagen dampfte es drinnen von den feuchten Körpern. Man konnte sich sehr einsam fühlen in dem Bus. An den Armlehnen hingen Haarsträhnen. Bei jedem Bremsen rollten Lippenbalsam und Limonadedosen über den Boden.
An meinem ersten Tag war mir traurig zumute, als ich im Bus saß. Ich konnte an nichts anderes denken als an den Hof und was ich dort alles versäumte. Der April hatte sich zu einem warmen, viel versprechenden Monat entwickelt, und ich fand, dass es keinen schöneren Ort für so ein Wetter gab als unseren Bergkamm. Sogar Rehe hatte man da oben schon herumstolzieren sehen. Ich hätte mir von Billy gerne das verfallene alte Haus seiner Familie zeigen lassen oder die Stelle, wo die Rotmilane hausten, und wäre das heute nicht der perfekte Tag dafür gewesen? Ich steigerte mich so richtig hinein in mein Elend. Ich zupfte an den losen Fäden meines Blazers. Die Rotmilane werden im Volksmund Kükendieb genannt, und dieses Wort beginnt mit einem K. Ich versenkte den Gedanken tief in meiner Brust.
Die Eingangshalle war kalt und roch nach Möbelpolitur. Ich erinnere mich, dass die Wände türkisfarben waren, und direkt vor mir schwang sich die berüchtigte Treppe hoch. Auf der Liste der neuen Schüler und Schülerinnen war ich als Jones, E. eingetragen, und ich musste mich strecken, als ich mich bei der Frau mit dem Leberfleck meldete, die hinter einem hohen Pult saß. Sie lächelte nicht. Ich auch nicht.
»Warte da drüben in der Ecke«, sagte sie.
Die ersten Tage an einem neuen Ort sind immer befremdlich - alles kommt einem verzerrt und verwirrend vor. Die Schüler, die ich nacheinander am Fenster vorbeimarschieren sah, wirkten so groß auf mich, so wirklich, so zu Hause hier. Von jedem Läuten wussten sie, was es zu bedeuten hatte. Von jeder schweren Tür, wohin sie führte. Und sie sprachen eine ganz andere Sprache.
»Melyngoch!« Ein Junge, der fast aus seiner Jacke platzte, zeigte durchs Glas mit dem Finger auf mich und blies mir spöttisch einen Kuss zu.
Ich zeigte ihm zwei Finger.
Er stieß ein fettes Lachen aus und stolperte weiter.
»Kümmere dich nicht um sie«, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um und blickte in ein schüchternes Augenpaar unter einem braunen Vogelscheuchenschopf. Blasse Augen mit langen Wimpern. Warum waren seine Wimpern so dick und lang und meine kurz und rot?
»Was hat er gesagt?«, fragte ich. »Ich bin nicht aus Wales.«
»Ich weiß«, sagte er. »Du bist aus Birmingham.«
»Was hat er gesagt?«
»Es war wegen deiner Haare. Sie nennen dich Rotfuchs.«
»Ist das alles?« Da konnte ich mit gröberen Geschützen auffahren.

Das war Geraint - aber ich könne ihn Gerry nennen, wenn ich wolle. Und während Mrs. Jones - nicht verwandt - ein bebrilltes Mädchen mit verstopfter Nase damit beauftragte, sich in der ersten Woche um mich zu kümmern, war es Gerry, von dem ich alles Wichtige erfuhr.
Verleih nie deinen Radiergummi, oder du kriegst ihn nicht wieder.
Streck deinen Popo nicht raus, wenn du am Wasserspender trinkst.
In unserer Schule spukt es.
Iss den Kohl nicht.
Siehst du den da? Das ist Joe Vickery. Er hat die Niere von einem andern.
Das konnte ich nicht glauben. »Das gibt es nicht!«, rief ich. »Wie kann das sein?«
»Hat er aber. Das wissen alle. Er hat die Niere von einem toten Jungen. Frag ihn, wenn du mir nicht glaubst.« Ich fragte nicht, es kam mir falsch vor. Aber der Gedanke, ein fremdes Organ in sich zu haben, das unter der eigenen Haut pulsiert. Unvorstellbar!
Gerry war gescheit. Seine Arbeiten kamen am nächsten Tag mit Sternchen zurück, und er fragte mich immer über Birmingham aus. Er wollte von unseren Kohlenbergwerken hören, von den Doppeldecker-Bussen und den indischen Restaurants. Er fragte nach der IRA-Bombe und den Stoßzeiten. Also erzählte ich es ihm. Wir hockten zu Mittag auf der Treppe, und ich packte die Geschichten aus, die ich sicher in mir verwahrt hatte - die Ratten unter dem Gartenschuppen, was ich unter der Eisenbahnbrücke gesehen hatte, wie wir samstags die High Street auf und ab gegangen waren und uns die Augen nach einem rothaarigen Mann aus dem Kopf geschaut hatten. Ich kam mir wichtig vor, wenn ich von der Stadt erzählte. Auch andere hörten mir zu. Ich trug meinen Akzent dicker auf; ich würzte meine Geschichten.
»Wie ist deine Mutter gestorben?« Er fragte mich das an einem Mittwoch, als wir über den Schulhof gingen, jeder mit einem Riesenbonbon kämpfend.
Ich zuckte die Achseln. »Einfach so.«
»Mein Dad behauptet, er hätte gehört, dass es Selbstmord war.«
»Blödsinn, das kannst du deinem Dad sagen. Er irrt sich. Es war was mit dem Herz.«
»Was denn?«
Ich verzog den Mund. »Weiß ich nicht genau. Es war einfach schwach. Es war halt nicht so gebaut wie andere.«
»Also ein Herzinfarkt?«
»Nein. Herzinfarkt kriegen nur alte Leute. Es hat einfach zu schlagen aufgehört.«
Er überlegte. »Fehlt sie dir?«
Warum fragten mich die Leute das immer wieder? Eine dumme Frage. Ich schaute auf ihren Blazer hinunter. Ich hätte gerne gesagt, dass sie nach Jasmin gerochen hatte, dass sie mir den Tee mit einer Fanfare kredenzt hatte wie ein Zauberkunststück. Aber ich sagte nur: »Manchmal.«
Zum Ausgleich erzählte er mir, dass seine Eltern einander schlugen.
»Nie ins Gesicht«, sagte er, »weil man das sieht.«
Und so hatte ich am Ende meiner ersten Schulwoche das Gefühl, dass unsere Geheimnisse so fest miteinander zu einer Form verschmolzen waren, dass nichts sie je wieder voneinander trennen könnte.
Mein erster Freitag. Er ist inzwischen berüchtigt.
Es war in der Mittagspause.
Gerry war beim Fußballspielen, und so ging ich allein zum Essen. Ich schlüpfte in den Raum und nahm mein Blechtablett.
Es roch nach gekochtem Gemüse. Und es war laut, und die Luft dampfte wie in einem Schwimmbad. Ich suchte mir einen Platz für mich allein. Mir war heiß, ich war müde, und ich hatte die Nase voll. Es war verboten, von den Plastikstühlen aufzustehen, bevor alles aufgegessen war, aber ich mochte nicht essen - ich hatte noch nicht gelernt, dass man Essen auf dem Teller zu einem Brei zerstampfen und unter Messer und Gabel verstecken oder Rosenkohl heimlich vom Löffel unter den Tisch fallen lassen konnte.
Ich saß fast eine Stunde dort. Es war Käsequiche - das weiß ich noch, weil ich herausfand, dass sie sich gut als Wurfgeschoss eignet.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.08.2005