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Hätte ich für die neue Schule Orange und Marineblau tragen müssen, wäre ich in den Hungerstreik getreten. Ich hätte einen Koller gekriegt und wäre fortgelaufen, um ganz allein in der alten Schäferhütte zu leben. Ich hätte mich von Beeren, Heu und Regenwasser ernährt. Die Schafe hätten mich warm gehalten. Und in der Nacht hätte ich mich mit Billy treffen können, und wir hätten zusammen Eier gestohlen. Mit acht glaubt man, dass so etwas möglich ist, dass man leben kann, wie man will, und es überlebt.

Ich trug den Blazer, der einmal meiner Mutter gehört hatte. Er war schon ein bisschen verschossen und viel zu groß für mich, und obwohl meine Großmutter ihn in die Sonne gehängt und mit dem Teppichklopfer bearbeitet hatte, roch er noch immer nach Dachboden. In der linken Tasche war ein Loch, durch das ich den Finger stecken konnte. Auf dem Innenfutter waren ein paar schwarze Tintenkleckse, als wäre eine nasse Katze darüber stolziert. Meine Großmutter versuchte alles, aber sie brachte sie nicht heraus.
»Ein Tintenkrieg, denk ich«, schniefte sie, »so, wie ich sie kenne.«
Der Rest meiner Tracht kam vom Kirchenbazar. Alle meine neuen Pullover hatten fein säuberlich die Namen anderer Mädchen eingestickt, und es war seltsam, sich fremde Füße in meinen Hockeystiefeln vorzustellen, einen anderen Hintern in meinem blauen Rock. Das Oberteil meines Trainingsanzugs war mit Parfum besprüht worden und musste zweimal gewaschen werden. Aber es roch immer noch ein bisschen blumig.
An meinem letzten freien Tag wanderte ich bedrückt über den Hof. Ich schmollte beim Rhabarberbeet, schlurfte zwischen den Kühen umher. Ich stieg hinauf zum Tor-y-gwynt, wo man die Wildheit der Natur noch spüren konnte. Ich versteckte mich in der verlassenen Scheune und blieb so lange, dass die Eichhörnchen vergaßen, dass ich da war, und die Tauben zu gurren anfingen.
Als ich am Abend nach Hause kam, außer Puste und mit Heusamen im Haar, fand ich eine Küche voller gelb paspelierter marineblauer Kleidungsstücke vor.
Ich wischte mir die Nase und starrte sie angeekelt an.
»Stell dich doch nicht so an, Evangeline! Die Sachen sind hübsch. Und du wirst ja nicht die Einzige sein, die so etwas trägt, oder? Also wirklich!«
»Gelb? Ich hasse Gelb.«
»Ach hör auf. Mach nicht so ein Theater.«
»Würg É«
»Also jetzt benimm dich.«
Im Mundwinkel hatte ich immer noch einen schuppigen Fleck von meinem Ausschlag, aber wenn ich die Lippen zusammenpresste, sah man ihn nicht. Ich hatte am Abend zuvor im Badezimmer geübt. Meine Großmutter rollte die Ärmel auf und machte sich mit der Schneiderschere über mein Haar her. Sie tat ihr Bestes, um die wilde Mähne zu bändigen. Ich jammerte, aber am nächsten Tag striegelten wir es mit einer nassen Haarbürste zurück und klemmten es mit zwei marineblauen Haarspangen fest. Sie sah erschöpft aus, ihr Gesicht war gerötet.
»Na bitte! Guck dir das an! Dewi - komm mal her und schau! Ein Kunstwerk, Evie, das sag ich dir.« Ich musste vom Haarspray niesen, und eine Nadel fiel heraus.
Als ich mich in den Hof hinausschlich, lungerte Lewis in Hemdsärmeln neben dem Laufgang für die Schafe herum. Er lachte und stieß einen Pfiff aus, und ich streckte ihm die Zunge heraus und zeigte ihm den Mittelfinger.
Daniel bürstete ein Stäubchen von meinem Blazer, kniff mich ins Kinn und schenkte mir sein Lächeln, das spezielle, das er sich für besondere Menschen aufhob, wie er sagte. Er trug ein weißes T-Shirt, das ihm zu klein war, und wenn er die Arme hob, konnte ich die Haare auf seinem Bauch sehen. Sie wuchsen in einer geraden Linie.
»Du siehst ganz wie eine Dame aus«, sagte er.

Sie bestanden darauf, ein Foto von mir zu machen, bevor ich zur Schulbushaltestelle ging. Ich stand neben der hinteren Tür, wo vor einem Jahrhundert Wilfred gestanden hatte, und hatte mein kaltes, sarkastisches Lächeln aufgesetzt. Das Bild klebte eine Weile an der Kühlschranktür. Da war ich, störrisch, sauber, bereit, der Welt entgegenzutreten.
Ich mochte dieses Foto mit der Zeit ganz gern. Jedes Mal, wenn ich den Kühlschrank plünderte, sah ich es. Es war das einzige Bild, das sie von mir hatten, auf dem mein Haar hübsch aussah - die Sonne hatte sich darin gefangen, und auf einer Seite glänzte es fast blond.

Der heilige Bartholomäus. Ich hatte keine Ahnung, wer er war. Ich hockte in meinem Zimmer, zupfte an meinen Zehen, rollte seinen Namen im Mund herum und kam zu dem Schluss, dass er einen qualvollen, aber würdigen Tod gehabt haben musste, weil das bei allen Heiligen so ist. Nach einem Bild, das Mrs. Willis mir einmal gezeigt hatte, stellte ich mir Heilige immer in Sackleinen vor, den Blick zum Himmel emporgewandt und mit einem geheimnisvollen goldenen Ring über dem Kopf. Ich fragte mich, ob der heilige Bartholomäus Marineblau mit gelben Paspeln getragen hatte; ich fragte mich, ob es einen einzigen Menschen in der Schule gab, der seinen Namen buchstabieren konnte.
Das Gebäude war an sich schon seltsam, erst recht für eine Schule. Ein vierstöckiger Bau aus dunklen Steinen, der an der Straße nach Aberystwyth thronte und in den Wintermonaten bedrohlich aussah. Mein Großvater erzählte mir, dass es einmal ein Haus gewesen sei, in dem eine Familie gewohnt habe. Ich hatte ihm zuerst nicht glauben wollen. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass irgendjemand Lust gehabt haben sollte, in einem feuchten, hallenden Haus zu wohnen, in dem es immer zu kalt war. Wenn ich nachsitzen musste, wanderte ich hinterher durch die Gänge und stellte mir vor, wie es wohl gewesen war - mit Wandteppichen und Brandy und flackerndem Feuer in den Kaminen -, aber es kam mir trotzdem nicht freundlich vor. Die Zimmerdecken waren so hoch, dass niemand die Spinnweben erreichen konnte. Ich sah da ein paar riesige Spinnen.
Das Haus war von den Morgan-Rices erbaut worden, einer Familie, die vor zweihundert Jahren Geld im Bergbau gemacht hatte, oder mit irgendetwas in dem Zusammenhang. Sie waren nicht sehr beliebt gewesen. Ich hatte gehört, dass sie in Pelzen herumstolzierten und prächtig dinierten, während ihre Bergarbeiter rußig und müde und arm waren. Genevieve Morgan-Rice hatte sich auf der Haupttreppe das Genick gebrochen, hieß es. Mir gefielen die geflüsterten Mordgerüchte, die in der Schule die Runde machten, und die von den älteren Mädchen verbreitete Geschichte, dass Genevieve immer noch mit gepuderter Nase, glitzernden Ohrringen und ihrem Schoßhündchen die Korridore entlangschwebte. Wenn am späten Nachmittag das Licht schräg durch die staubigen Oberlichter fiel, hatte ich das Gefühl, als stünde sie gleich neben mir. Ich hoffte, dass jemand sie von hinten gestoßen hatte oder dass sie von einem Liebhaber die Treppe hinuntergeschubst worden war, aber meine Großmutter hatte dafür nur ein verächtliches Grunzen übrig. Sie meinte, dass die gute Frau schlicht und einfach nach einem Gin zu viel gestürzt sei, worin die Bergarbeiter zweifellos ein Walten der Gerechtigkeit gesehen hatten.
Danach verließ die Familie, einer nach dem anderen, die Stadt. Jahrelang stand das Haus leer; Flechten krochen die Wände hoch, und die Winterstürme zerschlugen die Fensterscheiben. Dann gab ein bärtiger Mann mit einem langen Namen sein ganzes Vermögen dafür aus, das Haus herrichten zu lassen. Er rüstete es mit Tafeln und Schultischen aus, hängte ein Porträt von sich in die Eingangshalle und schuf St. BartholemewÕs. Jedes Jahr am letzten Tag des Sommersemesters warf ein Schulabgänger ein Ei auf sein Gemälde. Das war Tradition, ein ungeschriebenes Gesetz, und soweit ich mich erinnern kann, wurde es nie gebrochen. Meine Mutter hat es bestimmt getan. Ich sehe sie vor mir, mit offenem Haar und weit ausholendem Arm. Als ich achtzehn war, warf ich selbst ein Ei nach ihm - ein blaues, weil wir inzwischen ein paar araukanische Hühner hatten.
Im Winter sah es also wie ein Gefängnis aus, aber wenn die Sonne schien, mochten es die Leute. Im Sommer leuchteten die Steinmauern im Abendlicht. Im Mai blühten rundherum die Rhododendren und hüllten die umliegenden Berge in die Farbe des Drachen. Ich wusste, dass sie eigentlich nur Unkraut waren und zusammen mit dem Adlerfarn wucherten, aber weil sie schön waren, schien es niemanden zu stören - Schönheit macht nachsichtig. Ist das nicht immer so? Und sie waren auch berühmt und standen sogar in den Führern. In den Semesterferien gab es in der Schulkantine Fünfuhrtee für die Gartenenthusiasten, die von meilenweit herkamen, um sie zu sehen.
Außerdem nistete zwischen zweien der vielen Schornsteinköpfe jedes Jahr ein Dohlenpärchen. Zuerst wollte die Schule sie nicht haben; sie brachten Stacheln auf dem Dach an und stülpten kleine Metalldeckel über die Schornsteinköpfe, aber die Vögel kamen trotzdem wieder. Jedes Frühjahr, wenn die Jungen schlüpften, erschien ein kleiner Artikel mit einem Foto von Mrs. Ifans in der Lokalzeitung, die sich große Mühe gab, nicht allzu dämlich zu glotzen. Ich mochte die Dohlen. In den Physik- und Chemielabors konnte man ihre Schreie hören, und sie machten auf Dachziegel, Fensterbänke und frisch gewaschene Köpfe.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.08.2005