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Verzweifelte Worte. Ich kann es ihr nachfühlen - wer könnte das nicht? Haben wir nicht alle irgendwann einmal etwas Wertvolles verloren? Aber besser sie als ich. Ein altes Bettelarmband - ein Erbstück von der Seite meiner Großmutter. Fast ein halbes Jahrhundert Ehe und ein Glücksbringer für jedes Jahr davon - es gibt weder genügend Worte noch genügend Geld, um so einen Verlust gutzumachen, und das wusste meine Mutter.
Nicht dass es der Mutter meiner Großmutter viel Glück gebracht hätte. Es ist ein schweres Ding. Zu viele Glücksbringer drauf - vielleicht fordert man damit das Glück zu sehr heraus? Sie stoßen scheppernd gegeneinander und bleiben an der Wolle hängen. Und zu weit ist es auch, für einen stämmigen Arm gemacht. Außerdem ist es inzwischen an manchen Stellen schwarz angelaufen. Wenn ich es an die Nase halte und tief einatme, kann ich noch den Rauch daran riechen. Alles in allem nie dafür gedacht, getragen zu werden, und jetzt schon gar nicht mehr.

Aberporth
Wie das so ist, war allerhand zu tun, als mein Großvater vor zwei Jahren starb - an nicht mehr als einer schweren Erkältung letzten Endes. Er hinterließ einen ganzen Raum voller Schachteln. Nichts war sortiert. Ich denke, er hat nicht gespürt, dass das Ende nahe war, sonst hätte er sicher ein bisschen Ordnung gemacht. Aber er war ja auch erst siebenundsiebzig. Eigentlich gar nicht so alt.
Es gab Schachteln, Briefumschläge, Aktenmappen, Notizblöcke, Telefonnummern, Merkzettel, Listen von Rinderpreisen, Ratschläge für das Entfernen von Zecken und lose Blätter, voll gekritzelt mit Wörtern, die keinem von uns etwas sagten. Daniel und ich brauchten drei Wochen, um das Ganze durchzusehen, auf verschiedene Stöße zu legen, alte Müllsäcke damit zu füllen und alles, was mit dem Hof zu tun hatte, in einer roten Plastikkiste mit der Aufschrift Pencarreg zu sammeln. Drei ganze Wochen - aber wir haben es schließlich geschafft. Seine Kleider brachte ich zur Caritas und kam mir herzlos dabei vor. Aber ich kann nicht der erste Mensch gewesen sein, der so etwas getan hat. Die Angestellte griff mit einem tröstenden Lächeln nach den Sachen, als wüsste sie genau, woher sie kommen. Was soll man sonst tun mit alten Jacken und Krawatten? Sicher ist alles, was es an solchen Orten gibt, von den Toten zurückgelassenes Hab und Gut.
Als ich von dort zurückgekehrt war, fühlte ich mich einsam und kramte ein bisschen in den Schubladen von Großvaters Nachtkästchen. In der obersten Lade fand ich ein zerknittertes, abgegriffenes Foto, dessen Farben schon verblichen waren. Ich ging damit ans Fenster, um besser zu sehen. Meine Mutter mit Zöpfen und Stirnfransen, die dringend der Schere bedurft hätten. Ihr Lachen ist so echt und ungeniert, als hätte der Fotograf sie dabei überrascht. Sie hält eine Tüte Eis mit beiden Händen - Erdbeereis? Ich drehte das Bild um und fand dort mit Bleistift geschrieben: Bee, Aberporth, Juni Õ60.
Mein Großvater hatte sie Bee genannt, Biene. Ein Kosename, den nur er benutzte - als sie noch ganz klein war, sogar Bumble Bee, Hummel. Auf diesem Bild war sie also zwölf Jahre und zwei Monate alt. Noch nicht Mutter, noch nicht verliebt, noch weiter nichts als eine Tochter und für nicht mehr verantwortlich als eine störrische Stirnfranse und ein schmelzendes rosa Eis.

Das Bild ist nicht mein Lieblingsfoto, aber es kommt knapp an zweiter Stelle. Es fängt einen Augenblick absoluter, ungetrübter Freude ein. Wunderbar, der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Das fröhliche, sorglose Lachen. Nur Kinder können so lachen. Außerdem stelle ich mir meinen Großvater hinter der Kamera vor, glücklich und noch kaum ergraut. Meine Großmutter watet wahrscheinlich irgendwo durchs Wasser, das Haar wegen des Seewinds mit Spangen zurückgeklemmt, die Hose bis zu den Knien aufgerollt.
Aber wir sind auch nach Aberporth gefahren, Daniel und ich. Es ist schon eine ganze Weile her inzwischen - einundzwanzig Jahre oder mehr. Eines Morgens im April, als Rosie noch lebte, klopfte er fröhlich an meine Tür und fragte: »Sind Sie beschäftigt, Madame?«
Hoffnungsvoll schüttelte ich den Kopf.
»Wie wärÕs dann mit einer Fahrt ans Meer?«
Ich war irr vor Freude. Ich wirbelte durchs Zimmer, probierte verschiedene Tops an, bürstete mein Haar glatt, und mein Kopf floss über von Geschichten übers Meer. Ich war noch nie an der Küste gewesen. Ich hatte immer nur Geschichten darüber gehört - von Schiffbrüchigen, von Piraten, von Meerjungfrauen und (meine Lieblingsgeschichte) von Riesenkraken, die Schiffe in die Tiefe zogen und ihre unheimlich großen, unergründlichen Augen an die Fenster pressten, um zu sehen, ob es da drinnen Leben gab. Ich wusste natürlich, dass solche Geschichten unwahrscheinlich waren, reine Phantasie, aber ein Ort, der zu solchen Erzählungen inspirierte, musste einfach wunderbar sein.
»Kraken gibt es keine, aber Zackenbarsch«, sagte Daniel, »und Lippfisch und Brassen. Und Steinbutt. Und frische Makrelen im Sommer. Und weiter draußen sogar Blaue Haie.«
Wir hatten uns für diesen Tag den Land Rover geliehen. Daniel trug ein hellgelbes Hemd, das seine Arme sehr braun aussehen ließ, und eine Sonnenbrille, die er sich ins Haar hinaufgeschoben hatte. Es war ungewöhnlich warm für April. Hätten wir gewusst, dass diese Hitze den ganzen Sommer anhalten würde, dass wir uns schon im Juni nach Regen sehnen würden, wären wir an diesem Tag vielleicht gar nicht ans Meer gefahren. Genießt den Tag, hatte meine Großmutter gesagt. Vielleicht war das schon unser Sommer. Dieser eine, einzige Tag. Ich saß auf dem Beifahrersitz, meine Füße in den Socken auf dem Armaturenbrett.
»Blaue Haie?«, fragte ich aufgeregt. »Können die einen Menschen fressen?«
Er grinste. »Ordentlich in die Zehen zwicken vielleicht.«
»Was gibt es noch?«
»Seehunde.«
»Seehunde. Wirklich?«
»Hast du noch nie einen Seehund gesehen?« Er schnappte mit gespielter Überraschung nach Luft.
»Weißt du doch!«
»Na, vielleicht siehst du heute einen É«
Der erste Wiesenkerbel kam heraus. Ich streckte die Hand aus, während wir auf kurvigen Landstraßen um Lampeter herumfuhren, und ließ meine Finger durch die Stängel gleiten. Wir tauchten unter Zweigen durch und zischten über Brücken. Sogar wenn ich die Augen zumachte, konnte ich sagen, ob wir an einem Baum vorbeifuhren oder nicht, denn das Licht unter meinen Lidern wechselte von rot zu schwarz und wieder zu rot.
Aberporth. Ich erinnere mich an das Straßenschild. Der Himmel war blau, wie er blauer nicht sein konnte. Alles glitzerte - das Meer, der Parkplatz, die Schaufenster. Mit zögernden Schritten staksten wir ins Wasser. »Brr, ist das kalt«, sagte er und schüttelte sich in gespieltem Schaudern.
Mit einem Stöckchen schrieben wir meinen Namen, die volle Version, in den Sand. »Warum haben sie dir bloß so einen langen Namen gegeben?«, fragte er. Ich fand einen toten Krebs. Er erzählte von Zuhause, von seiner Familie in den Malvern Hills, und er sagte, dass es mir dort sicher gefallen würde. Wir setzten uns auf eine Bank mit Blick auf den Strand, schleckten Eis und sahen zu, wie die Flut hereinkam. Die Wellen klatschten über Felsen, auf denen wir vor wenigen Minuten noch gestanden hatten. Mein Name wurde bis auf die lange Schleife vom g ausgelöscht.
War das der vollkommene Tag? Ich wüsste nichts, nicht die geringste Kleinigkeit, die ihn getrübt hätte. Natürlich hat es auch seither vollkommene Tage gegeben; vielleicht bleibt uns die erste Begegnung mit der Vollkommenheit bloß am längsten in Erinnerung? Zwei Jahrzehnte ist es her, und ich kann immer noch den Sand zwischen meinen Zehen fühlen. Und ich habe mir nicht einmal einen Sonnenbrand geholt, weil er mir an einem Stand auf der Seepromenade einen marineblauen Fischerhut gekauft hat. Es gab keine Seehunde in Aberporth, aber viele, viele Möwen. Ich lernte den Geruch des Meeres kennen - nicht fischig, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber so salzig, dass es mir den Speichel auf die Zunge trieb. Es fiel mir auf, dass die Frauen Daniel ansahen, aber es machte mir nichts aus, denn er gehörte den ganzen Tag mir.
Ich mag das Bild meiner Mutter also auch aus einem anderen einfachen Grund. Auch ich bin dort glücklich gewesen. Natürlich nicht zur selben Zeit - ihr Erdbeereis wurde acht Jahre und zehn Monate früher gemacht als ich. Aber wir haben am selben Strand gestanden, sie und ich, und haben gelacht. Ich erkenne die weißen Bänke hinter ihr; ich weiß, dass sich zu ihrer Rechten die Irische See dehnt.
Nicht lange nach fünf kamen wir wieder nach Hause. Mr. Phipps sah uns an der rosa Kate vorbeigleiten, und ich fing seinen Blick auf. Wie schon beim ersten Mal lag eine entschlossene Gehässigkeit darin. Sein Blick war seelenlos wie der eines Fisches, aber nicht einmal er konnte mir den Tag verderben. Ich saß neben Daniel, Billy war in Reichweite, noch war nichts Schlimmes passiert in Wales, und die Sonne hatte meine Haarspitzen schon ein wenig heller gebleicht.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.08.2005