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Ihre fleischigen Arme schwabbelten. »Aus heiterem Himmel.«
Mir fiel das Kinn herunter. Wer hätte so etwas ahnen können? Wer hätte vorhersehen können, dass einem Jungen, der keinen Freund hatte, dessen Mutter nicht normal war und der nichts weiter tat, als sich ein paar Tage vor Halloween auf seine Weise die Zeit zu vertreiben, so etwas passiert? So vieles auf der Welt war einfach nicht fair - das wusste ich natürlich schon. So vieles war grausam und schmerzhaft und ohne jeden Sinn. Warum war das nicht einem großmäuligen, angeberischen, streitsüchtigen Rugby-Typen passiert, der das Pferd geärgert oder vor anderen eine Schau abgezogen hatte? Warum hatte es Billy passieren müssen, einem Jungen mit einer lieblosen Mutter und ohne Freunde, der überhaupt nur in Bryn Mawr war, weil er die Pferde gern streichelte und mit Süßigkeiten fütterte? Zu viele Fragen und keine davon neu. Sicher hatte jeder in Cae Tresaint auch diese Gedanken im Hinterkopf gehabt, wenn er fragte: Wie geht es ihm? Haben Sie es gesehen? Wie sieht sein Kopf jetzt aus?
Mrs. Maddox erzählte mir, dass Billy drei Meter oder weiter weggeschleudert wurde. Das Geräusch sei wie der Aufschlag des Stocks auf einen Cricket-Ball gewesen - ein harter, sauberer Knall. Nicht viel Blut, sagte sie. Das überraschte mich. Ich hatte mir Ströme von Blut vorgestellt, die über den Hof krochen. Rote Pfützen in Schlaglöchern. Stroh, dass sich rot färbte.
»Und übrigens - er war mit deiner Mutter befreundet.«
Ich blinzelte.
»Na ja, wenn man so sagen kann. Er war ein paar Jahre älter als sie, aber er ist ihr überallhin mit verträumten Augen gefolgt, Gott segne ihn. Nicht dass er eine Chance gehabt hätte.«
»Er war mit Mum befreundet?«
Sie betrachtete mich mit einem eigenartigen Blick, als wäre sie schläfrig. Eine Hand streckte sie nach mir aus. Ich schaute darauf hinunter, die blauen Venen und die Altersflecken. »Ach, cariad. Fehlt sie dir sehr?«
Was hätte ich darauf antworten können? Wie fängt man damit an, jemandem sein Herz auszuschütten? Ich lächelte verlegen und zuckte leicht mit den Achseln.
Sie tätschelte meinen Oberschenkel, zog die Hand zurück und erhob sich.
»Jedenfalls hat Billy es nie verwunden, dass deine Mutter weggegangen ist. Es hat ihm fast das Herz gebrochen, würde ich sagen. Nicht, dass sie das gewollt hätte. Wahrscheinlich hat sie nicht einmal gewusst, dass er sie liebt, aber für uns andere war es sonnenklar. Ein Blinder mit dem Krückstock konnte das sehen! Noch Tee, Miss Jones?«
Ich schüttelte den Kopf. Ihr Tee schmeckte mir nicht. Als sie den Kopf abwandte, schüttete ich ihn in die Geranien.

Ein einfaches Gemüt - das war ihr Ausdruck für Billy Macklin. Als ob unsere Gemüter kompliziert wären. Als hätte der Unfall Billy auf die Stufe der einfachen, reinen Kreatur reduziert. Als hätte er ihn alles Überflüssigen entblößt, wie man einem Kohlkopf die schmutzigen äußeren Blätter ausrupft.
Ein einfaches Gemüt zu haben galt offenbar als etwas Tragisches. Mrs. Maddox sagte es bloß flüsternd. Ein Ausdruck, der mit gesenktem Blick oder leichtem Kopfschütteln einherging. Doch auf dem Heimweg überlegte ich. Eine traurige Geschichte, zweifellos. Das Herz wurde mir schwer beim Gedanken daran. Aber wieso hatte Billy sich dadurch verändert? Er war vor dem Tritt genau so ein Einzelgänger gewesen wie hinterher. Er streunte immer noch allein durchs Brych-Tal. Er hatte immer noch keine Freunde. In Wahrheit hatte ihm der Unfall nicht viel genommen - ein Gedanke, der mir jetzt wehtut. Ich kann ihn kaum ertragen. Was für ein Leben hat er gehabt?
Nach diesem Gespräch horchte ich in der Nacht auf neue Geräusche. Jedes Rascheln des Windes ließ mich zum Fenster stürzen, in der Hoffnung, ihn vielleicht dabei zu ertappen, wie er unsere Mülleimer durchwühlte. Ich hielt die Augen offen nach neuen Fußabdrücken. Ich hob ein auf der Straße gefundenes Schuhband und einen vereinsamten Lederhandschuh auf, weil sie vielleicht ihm gehörten. Ich war nicht besessen von dem Gedanken an ihn, aber ich war neugierig, fasziniert. Und ich habe mich auch nie wirklich gefürchtet. Die Vorstellung, dass ein geheimnisvoller, schattenhafter Mann hier durch die Gegend streunte, hätte den meisten Kindern vielleicht Angst eingejagt, mir aber aus irgendeinem Grund nicht. Das Knacken eines Zweiges unter einem Fuß erschreckte mich nicht, nicht damals. Ich kann mich nicht erinnern, dass Billy mir auch nur ein einziges Mal Anlass gegeben hätte, mein Heil in der Flucht zu suchen.
Ich maß ihm von Anfang an große Bedeutung zu. Nicht nur, weil ich beweisen wollte, dass Rosie Unrecht hatte - es gab wichtigere Gründe als diesen. Wenn es ein kleines Kästchen mit Geheimnissen gab, das ich nicht aufbrechen konnte, so hatte er den Schlüssel dazu.

Nachdem ich die rosa Kate verlassen hatte, ging ich direkt zur neuen Weide, um unsere Kühe zu besuchen. Sie hoben die Köpfe, als ich an ihnen vorbeiging, und wateten durch das feuchte Gras auf die Buchenreihe zu. Mein Haar verfing sich im Stacheldraht, als ich mich hindurchduckte. Es roch nach Füchsen.
Die Scheune stand auf dem benachbarten Feld. Halb verfallen, das Eingangstor von Nesseln bewacht. Ich verzichtete darauf, sie gleich genauer zu erkunden - es wurde schon spät und kalt. Aber ich starrte hinüber und wusste, dass er hierher kam. Und ich schwor mir, auch herzukommen, bis ich ihn treffen würde.
Drei Mal bin ich dort gewesen, bevor es wirklich klappte. Der Ort hatte eine seltsame Anziehungskraft. Wenn ich eine Ringeltaube in den Dachsparren gurren hörte, machte mein Herz einen Sprung. Das Licht fiel in hellen Streifen in die Dunkelheit herein. Ich umkreiste kleine runde, glänzende Spinnen, aber es widerstrebte mir, ihnen zu nahe zu kommen. Alles war staubig. Draußen, vor der Südwand der Scheune, wuchsen wilde Erdbeeren, aber sie schmeckten nicht so, wie ich gehofft hatte. Sie waren noch nicht reif, sondern hart und klein und so sauer, dass ich zusammenzuckte. Manche waren knochenweiß, wie ausgeblutet.
Außer mir schien niemand hierher zu kommen, aber das Betreten war nicht offiziell verboten. Immer wenn das Thema Schule zur Sprache kam, lief ich dorthin. Ich stürmte zwischen den Kühen durch, hinein in die Scheune und ihre Stille. »Wofür wird sie verwendet?«, fragte ich Daniel einmal beiläufig. Seine Antwort war vage. »Zum Heulagern vielleicht. Sie ist schon in dem Zustand, seit ich sie kenne. Aber pass auf - sie ist wirklich sehr morsch und verfallen. Das könnte gefährlich sein.«
Der Boden war trockene Erde, und da saß ich und wartete und schrieb mit einem Zweig meinen Namen. Evangeline Jones. Für wen schreiben wir so etwas - in den Staub, in nassen Sand, mit Küchenmessern in ein Fensterbrett? Egal für wen: Es ist der Beweis dafür, dass wir da gewesen sind. Der Beweis dafür, dass wir da gewesen und wieder gegangen sind, wenn Fußabdrücke nicht genügen. Aber es gab auch Fußabdrücke hier - große, weit auseinander. Wenn ich versuchte, meine Füße hineinzustellen und ihnen zu folgen, kam ich ins Schwanken. Ein unbeholfener Gang, der Gang eines Verletzten.

Der Geburtstag meiner Mutter fiel auf den Tag, an dem das letzte Lamm zur Welt kam. Es wurde geschwungen, bis es zu atmen anfing, auf die Beine gestellt, und dann machten wir uns zu viert auf den Weg zum Tor-y-gwynt, eine Prozession von geblähten Anoraks und Blumen, die im Wind ihre Blütenblätter verstreuten. Ich trug einen kleinen, schon etwas welken Strauß Buschwindröschen und ein Büschel Scharbockskraut von Mrs. Maddox - sie war zu wacklig auf den Beinen, um den Anstieg zu bewältigen. Meine Großmutter kämpfte mit dem von Osten kommenden Wind um ihr Kopftuch, aber der Wind gewann. Als ich ihr getupftes Tuch über Wales dahinsegeln sah, hätte ich beinahe laut aufgelacht. Ich musste mir auf die Lippen beißen, um das Lachen zu unterdrücken, und mein Kinn in den Kragen des Anoraks pressen, damit keiner mein Lächeln sah. Es überraschte mich selbst. Es war etwas gänzlich Neues und Ungewohntes.
Es wäre ihr neunundzwanzigster Geburtstag gewesen - ihr eigenes dunkelrotes Alter, ihr eigener letzter Blick zurück vor dreißig.

Glücksbringer
Es ist noch keinem aufgefallen, aber irgendwann werden sie es bemerken. Ich kann nicht ewig lange Ärmel tragen. Im Laden? Ich hab gesucht. Nichts. Und auch nicht auf dem Friedhof und nicht am Tor-y-gwynt, obwohl es natürlich irgendwo im Moor liegen könnte. Wenn das der Fall ist, kann ich das Kreuz drüber machen. Könnte ich vielleicht einer Elster die Schuld geben? Oder meinen Handgelenken, weil sie zu dünn sind? Eine schlimme Geschichte. Die Glücksbringer eines ganzen Lebens, und ich habe sie verloren. Wo? In der Scheune? Vielleicht in der Scheune. Ich hoffe auf die Scheune. K versteht es nicht - ist doch nur ein Armband, sagt er. Kann ich dir nicht ein anderes kaufen? Aber womit sollte ich anfangen? Ballettschuhe; eine Bibel; ein Hufeisen; ein Hund; eine Kirche mit einem Turm; ein Pferd; ein geöffneter Regenschirm. An die kann ich mich erinnern, aber es gab noch mehr. So ein Unglück. Vielleicht doch die Scheune. Ich hoffe auf die Scheune.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.08.2005