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Die Karlsruher Richter haben das letzte Wort

Verhandlung über die vorgezogene Neuwahl

Von Wolfgang Janisch
Karlsruhe (dpa). Längst kreist die politische Diskussion um Fernsehduelle, Linkskoalitionen oder Schattenkabinette - doch noch ist der letzte Vorhang im Neuwahldrama nicht gefallen. Morgen verhandelt das Bundesverfassungsgericht darüber, ob die fast 62 Millionen Wahlberechtigten am 18. September überhaupt zu den Urnen gerufen werden dürfen.

Der letzte Akt handelt von der Courage der zwei Richterinnen und sechs Richter des Zweiten Senats.
Der politische Druck ist gewaltig. Drei Verfassungsorgane - Kanzler, Bundestag und Bundespräsident - haben den Weg für die vorgezogene Wahl geebnet, die Bevölkerung ist ebenfalls dafür, wenn man den Umfragen glauben darf. Das Urteil, das für Ende August erwartet wird, wird mitten in die heiße Phase des Wahlkampfs platzen. Wer sich an frühere spektakuläre Entscheidungen erinnert, muss zu dem Ergebnis kommen: An Mut wird es den Richtern nicht fehlen. Als Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung die NPD verbieten lassen wollten, war der politische Druck vielleicht sogar noch größer - und trotzdem stellte der Zweite Senat im März 2003 das Verbotsverfahren ein. Gegen den Strom entschied das Gericht auch beim EU-Haftbefehl: Die vorhersehbare Kritik, das Karlsruher Veto bedeute einen Rückschlag im Terrorkampf, ließ die Richter unbeeindruckt.
Wie die Entscheidung allerdings aussehen wird, vermag im Moment niemand zu sagen. Die Expertenmeinungen sind geteilt, und zwei Namen stehen für die beiden Lager in den Reihen der Staatsrechtler: Ernst Benda, einst selbst Präsident des Bundesverfassungsgerichts, erachtet Gerhard Schröders »Trick« mit der fingierten Vertrauensfrage als unzulässig. Ernst-Gottfried Mahrenholz, früher Vizepräsident des Gerichts, hält dagegen den Weg zur Neuwahl für unbedenklich. Auffallend ist: Beide Seiten stützen sich auf das Karlsruher Urteil von 1983, mit dem der Zweite Senat eine vorgezogene Wahl zuließ - damals ging es um Helmut Kohls »unechte« Vertrauensfrage.
In der Tat enthält das Urteil zwei Antworten. Die erste lautet: Will der Kanzler mit Hilfe einer Vertrauensfrage gezielt das Misstrauen aussprechen lassen, um zu einer Neuwahl zu kommen, dann setzt dies »eine politische Lage der Instabilität« voraus, in der sich der Regierungschef nicht mehr der Mehrheit im Bundestag sicher sein kann. »Besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Schwierigkeiten« rechtfertigen die Auflösung nicht, heißt es dort.
Darauf pochen nun die klagenden Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD). »Bis in die gestrigen Abendstunden hatten wir eine stabile Mehrheit, die in sieben Jahren nicht ein einziges Mal versagt hat«, sagte Schulz am 1. Juli in der Debatte über die Vertrauensfrage.
Blättert man im Urteil von 1983 nur fünf Seiten weiter, klingt das ganz anders. Dort ist vom Beurteilungsspielraum des Kanzlers die Rede: Sieht er seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten erschöpft, dann muss der Bundespräsident - und damit auch das Gericht - dies hinnehmen, falls nicht eine andere Einschätzung »eindeutig« vorzuziehen ist. Diese Passage hatte Horst Köhler fast wörtlich zitiert, als er seine Neuwahlentscheidung begründete. Mit anderen Worten: In der politischen Frage, wie es um die Mehrheiten im Bundestag bestellt ist, hat Karlsruhe dem Präsidenten und sich selbst Zurückhaltung verordnet.
Vermutlich werden die Richter aber nicht nur in das alte Urteil schauen, sondern sich ein paar grundsätzliche Gedanken machen: Wie leicht darf es das Grundgesetz dem ohnehin mächtigen Kanzler machen, bei passender Gelegenheit eine Neuwahl anzusetzen? Die Verfassung ist, schon wegen der Weimarer Erfahrung mit ständig wechselnden Regierungen, auf Stabilität angelegt. Das Parlament kann den Kanzler nur mit einem konstruktiven Misstrauensvotum stürzen - also mit der Wahl eines neuen Kanzlers.
Im Gegenzug sind auch die Möglichkeiten des Regierungschefs beschränkt, den Bundestag aufzulösen. Karlsruhe wird also entscheiden müssen, ob diese Bremse nach Jahrzehnten politischer Stabilität noch nötig ist. Weimar liegt lange zurück. Andererseits könnten in Zeiten schwindender Bindungskraft der Volksparteien die Verhältnisse auch wieder schwankender werden.

Artikel vom 08.08.2005