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Zwischen Kunst und Kommerz

Litfaßsäule 150 Jahre alt - neben Zeitung wichtigster Informationspunkt

Von Dietmar Kemper
Essen (WB). »Das Fernsehen können Sie ausschalten, aber dem Plakat können Sie nicht entgehen«, betont der Leiter des Deutschen Plakat-Museums in Essen, René Grohnert. Mit der Litfaßsäule bekam die Werbung vor 150 Jahren ihren festen Platz in den Städten.
Die Litfaßsäule ist der Dauerläufer der Außenwerbung. Foto: Hörttrich

»Annonciersäulen« hießen die turmförmigen Gebilde, von denen der Druckereibesitzer Ernst Litfaß die erste am 1. Juli 1855 in Berlin-Mitte aufstellte. Zur Jahrhundertwende zogen bereits 400 davon die Blicke der Einwohner und Besucher Berlins an, heute sind es 3600, in ganz Deutschland 80 000. »Neben der Zeitung war die Litfaßsäule der wichtigste Informationspunkt«, sagte René Grohnert am Freitag dieser Zeitung. Außer Annoncen und Veranstaltungshinweisen hätten dort politische Bekanntmachungen wie die Mobilmachung im August 1914 ihren festen Platz gefunden.
Kommerz und Information an zentralen Stellen sollten zudem das »wilde Kleben« stoppen. Etwa ab 1840 hatte in den Großstädten ein Wettlauf um die Aufmerksamkeit begonnen. Egal ob Hauswand, Mauer oder Zaun: Alles wurde mit Papier gepflastert. »Wer um 9 Uhr klebte, war um 10 Uhr schon überklebt«, weiß Grohnert vom Deutschen Plakat-Museum, das mit 350 000 Exemplaren die größte Sammlung in Europa beherbergt.
Großformatige farbige Plakate mit bis zu zwei Metern Höhe tauchten seit Mitte des 19. Jahrhunderts zuerst in Frankreich auf; als Wegbereiter der »optischen Sensation«, wie es die Zeitgenossen empfanden, gilt Jules Chéret. Der Drucker trieb die Farblithographie voran und schuf die nach ihm benannten »Cheretten«: Schöne Frauen machten Werbung für Mode, Pastillen und vieles mehr. Damit prägte Chéret das Bild der Pariserin im Ausland. Zu denen, die Plakate auch als künstlerisches Ausdrucksmittel nutzten, gehörten Grasset und Toulouse-Lautrec. Das Plakat avancierte zum eigenen Genre, verbunden mit beinahe missionarischen Hoffnungen. Als Kunsterziehung fürs einfache Volk sollten Plakate dienen, ein Museum der Straße sein.
Der Kaufmann dachte da viel nüchterner: Plakate sollten wirken, mit einem großen Motiv, klaren Farben und großer Schrift. »Bestenfalls stört die Kunst nicht«, fasste Grohnert das damals vorherrschende Denken zusammen. Kaufleute hätten ohnehin andere Probleme gehabt, als sich darüber Gedanken zu machen, ob ihr Plakat ästhetisch wertvoll ist oder nicht. Werbung sei mit dem Makel behaftet gewesen, »unehrenhaft« zu sein, weil man alles behaupten, aber nichts beweisen musste.
Zu den Ablegern gehörten die Star-Plakate. Für Marika Rökk oder Marlene Dietrich waren sie von immenser Wichtigkeit. Grohnert: »Weil es noch kein Fernsehen gab, stellten Plakate die einzige Möglichkeit dar, ein Gesicht ständig in die Öffentlichkeit zu bringen und eine Marke zu schaffen.« Weil die glänzenden Vorbilder der Poster von heute mit viel Aufwand gestaltet wurden, entwickelten sie sich zum Sammelobjekt. Einer der ersten, der die neuartig anmutenden Kunstwerke zusammentrug, war der Zahnarzt Hans Sachs (1881 bis 1974) aus Berlin. 1905 gründete er den Verein der Plakatfreunde. Sachs' Plakatsammlung wird im Deutschen Historischen Museum in Berlin aufbewahrt.
Der Anteil der Plakate an den Werbemedien betrage heute nur noch drei Prozent, sagte René Grohnert (48). Als Fernsehgeräte in jedem Wohnzimmer standen, sei dem Plakat der Tod vorausgesagt worden. Wie gut, dass es Museen gibt: Das in Essen mit mehreren 100 französischen Stücken bezieht 2006 eine neue Bleibe auf dem Gelände der Zeche Zollverein.

Artikel vom 06.08.2005