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Schmusen mit Sand
und einer Kartoffel
Käthe Kruse bastelte vor 100 Jahren am Strand ihre erste Puppe
Für Generationen von kleinen Mädchen - und nicht selten auch Jungen - waren sie gleichermaßen beschützenswerte Babys, gute Freundinnen als auch brav zuhörende Kummerkästen. Daran hat sich allen PC-Spielen und Game-Boys zum Trotz bis heute nichts geändert.
Puppen gehören ins Kinderzimmer wie die Kinder selbst. Doch es war keineswegs der Spielzeug-Gedanke, der den inzwischen jahrhundertelangen Erfolgsweg der Puppen begründete. Zwar ist die eigentliche Geburtsstunde der Vorgänger von Barbie & Co. heute nicht mehr exakt zu ermitteln. Fest steht indessen, dass eine Reihe von Naturvölkern, dazu Chinesen und Japaner, die künstlichen Figuren für magische und religiöse »Einsätze« schufen. Verbürgt ist, dass schon im 13. Jahrhundert in den buddhistischen Tempeln Asiens Puppen für die Verbreitung der Lehre eingesetzt wurden. Auch die ersten Theater-Puppen sind aus jener Zeit bekannt. Als Spielzeug indessen kamen sie in Europa erst 300 Jahre später in Mode - für Mädchen aus reicher Familie.
Fast die gleiche Zeit sollte noch einmal vergehen, ehe die Ur-Puppe der Käthe Kruse-Dynastie 1905, also genau vor 100 Jahren, das Licht der Welt erblickte. Und das unter der warmen Sonne im schweizerischen Ascona. Dorthin war die am 17. September 1883 als Katharina Simon in Breslau geborene junge Frau gezogen, als sie zum zweiten Mal Mutter wurde. Vater der kleinen Fifi war, wie schon bei der ersten Tochter Mimerle (1902), der berühmte Bildhauer Max Kruse. Den hatte Katharina in Berlin kennen gelernt, nachdem sie dort, gerade 17-jährig, ihr erstes Engagement als Schauspielerin bekam.
Mimerle war es auch, die indirekt die Kruse-Puppen-Produktion in Gang brachte. Als das Mädchen zusah, wie ihre kleine Schwester gebadet, gewickelt und gefüttert wurde, beschloss sie, auch ein Kind haben zu wollen. Aber eines war klar: Es sollte möglichst genauso sein, wie das richtige Baby. Weich, schmusig - wenn auch nicht gar so empfindlich wie Fifi.
Max Kruse erhielt von seiner Frau den Auftrag, in Berlin nach einem besonders schönen Exemplar zu suchen und es möglichst schnell nach Ascona zu bringen oder zu schicken. Die Suche des Bildhauers aber war vergeblich. »Alles scheußlich. Ick koof keene Puppen. Wie kann man mit so harten, kalten, steifen Dingern mütterliche Gefühle wecken? Macht euch selber welche.« Diese Zeilen schrieb Max an seine Frau.
Die ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Sand vom Strand wurde auf ein Handtuch geschaufelt. Dann faltete und zupfte Katharina so lange an dem Stück Stoff, bis der Sand richtig verteilt war und die Zipfel, abgebunden mit ein paar Bändern, durchaus als Ärmchen und Beinchen herhalten konnten. Als Kopf diente eine dicke Kartoffel. Mimerle war begeistert von dem neuen Spielzeug.
Ja, so sollte die Puppe sein. Weich und anschmiegsam der Körper, dabei aber doch recht unempfindlich. Fast zwangsläufig, dass es nicht bei dem einen Exemplar blieb. Natürlich waren es bald nicht mehr Kartoffeln, die als Köpfe für die Puppen herhalten mussten. Käthe Kruse suchte nach anderen Materialien. Die mussten aber auf jeden Fall immer anschmiegsam sein. Zudem folgte die junge Frau schon damals dem Grundsatz: »Eine Puppe muss etwas zum Liebhaben sein. Denn das ist der Sinn und Zweck einer Puppe.«
Damit aber nicht genug. Kruses Philosophie ging noch einen Schritt weiter. »Was hat man überhaupt lieb? Was ist überhaupt Liebe? Da sind wir auf einmal von der Puppe zum allertiefsten Problem gelangt.« Die Antwort auf die Fragen mündet bei der Puppenmacherin in dem Satz: »Es gibt eben keine kleinen Dinge im Leben, überall ist's tief - man muss nur hinsehen wollen.«
Und dieses Hinsehen hat für die junge Mutter letztlich bei der Herstellung ihrer Kreationen noch eine weitere Konsequenz. Die Puppen müssen in Handarbeit entstehen. »Die Hand geht dem Herzen nach. Nur die Hand kann erzeugen, was durch die Hand wieder zum Herzen geht.«
Was Käthe Kruse damit meinte, muss vor dem Hintergrund der Industriealisierung gesehen werden. In Deutschland, England und Frankreich entstanden damals Puppenfabriken, die das Spielzeug aus Holz, Porzellan und schließlich aus Kunststoff als Massenware herstellten. Fast immer mit dem gleichen Kindergesicht, den gleichen Augen.
Das war nichts für Kruse. Sie liebte das Detail, wollte den Puppen Charakter geben. Und schnell sprach sich herum, dass die Frau des bekannten Bildhauers Puppen für ihre eigenen Kinder bastelt. Puppen, die zudem - just auch wegen der sonst üblichen Industriefertigung - eine Besonderheit sind.
Auch einige Designer und Hersteller haben das erkannt. Und so kommt es 1908 zu einer Ausstellung im Münchner Kaufhaus Tietz, auf der nicht mehr nur harte Puppen mit lieblichen Kindergesichtern zu sehen sind. Sorgsam gemalte Augen in Gesichtern mit den unterschiedlichsten Wesenszügen, schreiende oder auch traurige Puppenkinder sorgen für einen neuen Begriff. Die Künstler- oder Charakterpuppe hält Einzug. Zwei Jahre nach dieser ersten Ausstellung präsentiert Käthe Kruse an gleicher Stelle ihre Werke. Liebevoll gemalte Gesichter und Haare waren ihr ebenso wichtig wie die Beweglichkeit der Puppen. Fast immer hat sie dabei lebendige Kinder als Vorbild genommen. Eines der Beispiele dafür ist die Puppe VIII, ein getreues Abbild ihres Sohnes Friedebald im Alter von drei Jahren. Kreationen wie »Schlenkerchen«, »Träumerchen«, »Däumelinchen« oder »Planscherle« sorgen dafür, dass der Name Käthe Kruse heute in aller Welt bekannt ist. Etwa 1,5 Millionen Kruse-Puppen machten in den vergangenen 100 Jahren Mädchen zu glücklichen Puppen-Müttern.
Die Handarbeit ist dabei sicherlich ein Grund für den anhaltenden Erfolg des in Donauwörth ansässigen Unternehmens, das sich weiterhin gegen die Angriffe von Supermännern und diverse Computer-Spiele behauptet. Dazu trägt vermutlich auch der Ausbau der Produkt-Palette bei. So gibt es mittlerweile auch Geschenke für Babys und Kleinkinder bis hin zu Tapeten und Teppichen mit entsprechenden Motiven.
Wolfgang Schäffer

Artikel vom 17.09.2005