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Meiner Großmutter war das Waschpulver ausgegangen, und sie weigerte sich entschieden, zu Mr. Phipps zu gehen. »Zu dem gemeinen Kerl? Nur über meine Leiche«, erklärte sie. Da stand sie also in der Schlange mit einem Karton in den Armen. Ich begann mich zu langweilen. Ich ging hinaus, um draußen zu warten.
Er stand mit einer Tafel an der Straßenecke. Das Reich ist nahe, war darauf zu lesen. Niemand bemerkte ihn, oder sie taten, als bemerkten sie ihn nicht. Er schaukelte ein bisschen hin und her, den Blick zum Himmel gerichtet. Er wirkte so traurig, wie er da, den Kopf nach hinten geneigt, in seinem starken walisischen Singsang lauthals verkündete: Bereuet eure Sünden! Noch ist es nicht zu spät, gerettet zu werden!
Ich sollte in dieser Nacht von ihm träumen.
Ich weiß, dass er erst jetzt im Nachhinein eine Rolle zu spielen scheint. Damals hat er mir wenig bedeutet. War er ein Omen? Gibt es das? Ich weiß nur, dass ich das Wort Reich der Liste in meinem Kopf hinzufügte und dass ich den Prediger seither nie wieder gesehen habe. Kein einziges Mal in den einundzwanzig Jahren, in denen ich immer wieder einmal in Lampeter gewesen bin. Nur an diesem einen Nachmittag im Frühling.
Trotzdem, ich würde lügen, wollte ich behaupten, dass mir seine Worte in den Monaten danach nicht immer wieder durch den Kopf gegangen wären. Sobald die Lichter ausgelöscht waren, erinnerte ich mich daran, und sie machten mich traurig.

Der Konzertflügel
Kein Ort auf der Welt war mit Mrs. MaddoxĂ• rosaroter Kate zu vergleichen. Sie war bemerkenswert. Sie kauerte am unteren Ende unserer Straße, mit einem Gemüsebeet und einer Magnolie davor. Diesen Magnolienbaum habe ich stets geliebt - er ist immer noch da, und im April streut er fleischige weiße Blüten um sich, glatt und groß wie Teller, und der Wind trägt sie bis vor die Eingangstür zum Pub. Sie sind wunderschön. Ihr Geruch ist es wert, da stehen zu bleiben.
Mrs. Maddox war nicht ordentlich, auch nicht sauber. Die Einrichtung ihrer Diele bestand aus einem schottisch karierten Garderobenständer und einer Vase mit Straußenfedern. Das untere Klo zierte ein grotesker Teller mit einem Elvis-Porträt; die Tür ließ sich nur anlehnen und wurde mit einer kaputten Schreibmaschine zugehalten. Und sie war auch nicht besonders umsichtig, die gute Mrs. Maddox - sie versteckte ihre Schlüssel in den Fleißigen Lieschen, ließ Stühle und Tassen über Nacht im Freien stehen und schlief manchmal bei offener Haustür ein. Nicht, dass es viel Wertvolles zu stehlen gegeben hätte.
Ihre Wände waren faszinierend - sie hatte chinesische Tapeten, ein seidiger Traum mit ausladenden Bäumen und hübschen kleinen Brücken. Sind Sie mal da gewesen, fragte ich sie. China war für mich ein Land der Stille und der Anmut. Sie schüttelte den Kopf und erklärte, dass Mr. Maddox der Abenteurer gewesen sei. Ein Mann im beigefarbenen Safarianzug vielleicht? Mit breitem Lächeln und einem Drink in der Hand? Die Dinge hier waren seine Geschenke, die Mitbringsel für seine damalige Verlobte. »Als wäre seine Rückkehr nicht Geschenk genug gewesen«, seufzte sie.
Ihre Küche war ein brodelndes, penetrant süßlich duftendes Labor. Hier braute sie ihre Konfitüren und sauren Gürkchen zusammen, die sie in Gläsern mit niedlich gemusterten Baumwollhüllen in einem Geschäft in Lampeter verkaufte. Auch mit einem Schild auf der Hauptstraße machte sie Reklame für ihre Waren: Zu verkaufen/Ar Werth - Konfitüre - und dieses Schild wurde nach ihrem Tod vor vier Jahren vergessen. Ich brauchte eine Drahtschere und meine ganze Kraft, um es zu entfernen. Sie war schon weit über neunzig, als sie starb.
In dieser Küche gab es Kessel, Kochtöpfe, Bratpfannen und Milchtiegel. Sie kochte Erdbeeren und Damaszenerpflaumen und herb-säuerliche Schwarzbeeren voller kleiner Samen von den Büschen am Ende unserer Zufahrt; sie dünstete Äpfel und Birnen und Rhabarber; im Spätsommer bezahlte sie mich dafür, dass ich durch Straßengräben kletterte, um Schlehen von Schwarzdornbüschen zu pflücken, die sie dann aufstach, einlegte und in Gin verwandelte. Das Zeug war ziemlich stark. Ich habe meine Großmutter nur einmal betrunken gesehen, und das war nach einem Abend in dem rosaroten Haus. In jener Nacht steckte ich den Kopf aus dem Fenster, um sie unten im Hof auf Daniel einbrabbeln zu hören, und er führte sie am Ellbogen ins Haus, gab ihr in allem Recht. Sein weiches Haar glänzte im Licht.
Mrs. Maddox konnte auch ganz passabel Klavier spielen. In ihrem Esszimmer stand ein Konzertflügel, auf dem sie abends wehmütige Weisen klimperte. Cole Porter, wurde mir mitgeteilt. Manchmal blieb ich auf der Straße stehen und hörte ihr zu - Lieder über altmodische Liebe, Liebe mit Cocktails, Perlen und Abendhandschuhen. Ihre Zeit, nicht meine; eine Zeit, die ich verpasst hatte. Sie hatte eine gute Stimme für ihr Alter. »Ich sah gut aus«, versicherte sie mir. Ich gab mir immer große Mühe, diese lahme Witwe mit dem hinreißenden Mädchen in Einklang zu bringen, das sie gewesen sein musste. Wir glauben, dass die Alten so geboren sind, wenn wir jung sind.
Aber es war weder die Konfitüre noch Cole Porter, die mich zu ihr zogen.
»So walisisch wie der Drache« behauptete sie zu sein. Das stimmte insofern, als es keine Sage, kein Faktum, keine walisische Überlieferung gab, die sie nicht in ihrem Kopf gespeichert und ordentlich abgelegt hatte. Das Rhondda-Tal, die fünf Nationen, Pobol Y Cwm, Rotmilane, Korbboote, die Legende von Gellert, dem treuen Hund - alles war da, wie Beeren in ein und dasselbe Glas gestopft.
Und außerdem kannte sie Cae Tresaint in- und auswendig. Sie kannte die Leute und wusste, was sie taten. Sie war eine Klatschbase, um das Kind beim Namen zu nennen, aber eine von der netten Sorte. Sie polierte Gerüchte so lange auf, bis sie im Hochglanz erstrahlten. Manche entsprachen der Wahrheit - dass Mr. Hughes untreu war, wurde zum Beispiel schon Jahre vor der Scheidung vermutet, und nur Mrs. Hughes war aus allen Wolken gefallen, als sie es erfuhr. Andere Gerüchte aber hatten keinen Funken Wahrheit in sich. Dass Reverend Bickley seinen Glauben verloren hätte? Quatsch, und das wussten wir alle. Manchmal sah ich ihn verschwommen durch das Glas in der Kirchentür mit gebeugtem Kopf vor dem Altar knien und zu niemandem sprechen. »Sie irren sich«, versicherte ich ihr. Er trug sein Kollar mit Stolz.
Hätte ich mehr Vertrauen in ihre Theorien gehabt, hätte ich sie direkt nach K fragen können; aber ich spürte, dass der Buchstabe verschwinden würde, sobald ich ihn ihr zugeflüstert hätte. Der Wind würde ihn davontragen wie einen Spinnwebfaden, und er wäre verloren für mich. Und alle könnten zusehen, wie er durch die Straßen schwebte. Schlimmer noch, er könnte meine Großmutter erreichen, und ihren Zorn durfte ich nicht wecken. Ich will seinen Namen nie von dir hören. Und ich will auch nicht, dass du mit irgendjemandem über ihn sprichst! Hast du gehört? Ich spürte, dass es am besten war, mit Schläue und Vorsicht zu Werke zu gehen.
Sie war also eine Klatschbase, manchmal sogar eine Märchentante, aber sie wusste allerhand, so viel war sicher. Das gab sogar meine Großmutter zu. »Ihr Hirn ist wie ein Mühlteich«, sagte man im Dorf. Aber was hieß das? Dass er bodenlos war, vermutete ich - und voller Unkraut, Hechte und alter Fahrradteile. Unter der Oberfläche schwammen Geschichten von Liebe, Verlust und Trauer. Aus irgendeinem Grund stellte ich mir ein ertrunkenes Mädchen vor - mit aufgelöstem Haar und einer Haut, so weiß wie Mondlicht, den Rock um sich gebläht wie eine Glocke aus Patchwork.
Mit solchen Gedanken im Kopf fasste ich also den Entschluss, Mrs. Maddox aufzusuchen und nach Billy Macklin auszuhorchen.

Zwei Wochen nach der Fußfäule. Unsere Kühe trotteten kauend über ihre neuere, bessere Weide. Die Osterglocken waren da, und der Brych rauschte. Ein frischer Geruch lag über Wales - feucht und kühl -, und ich machte mich in einem sauberen Pullover, mit frisch geschrubbtem Gesicht und einem Strauß in Silberfolie gewickelten Pencarreg-Krokussen auf den Weg. Auf dem Pfad zum Eingang ihres Hauses musste ich über schleimige Schnecken steigen.
»Evangeline! Was für eine nette Überraschung! Komm herein! Komm herein!«, rief sie. »Möchtest du Tee?«
Ich sagte ja, das wäre nett.
Ihr Wohnzimmer war mehr ein Gewächshaus. Die Fenster waren moosbewachsen und voller Vogelkot; auf einem Regal wuchsen Tomatenpflanzen. Ich teilte mir das Sofa mit einem fedrigen Farn, zu meinen Füßen stand ein Topf mit Geranien. Die Farben gefielen mir, aber so viele Pflanzen machten mich misstrauisch. Womöglich würde mich irgendein Ungeziefer für eine Blume halten und mir ins Haar krabbeln.
»Welchem Anlass verdanke ich das Vergnügen?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich bin nur so vorbeigekommen, Mrs. Maddox.«
Sie beäugte mich über den Rand ihrer Teetasse hinweg. »Nur so vorbeigekommen? Du kommst an jedem Tag des Jahres an meinem kleinen Haus vorbei, blodyn, und hast bisher noch nie unangemeldet hereingeschaut.«
Da hatte sie Recht. »Also ja, ich hab eine Frage.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.08.2005