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Die Lügnerin bist du«, sagte ich mit schmalen Augen. »Du lügst!«
Sie musterte mich einen Augenblick, den Kopf zur Seite geneigt. »Nein, tu ich nicht. Es ist wahr, Evangeline. Frag, wen du willst. Sogar Billy Macklin weiß es«, lächelte sie, »und er ist verrückt.«
»Er ist nicht verrückt!«
»Bist du ihm denn schon begegnet?«, antwortete sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ich hätte gerne ja gesagt. Ich hätte gerne gesagt, ja, ich bin ihm begegnet, und er ist klug und freundlich, und die Verrückte bist du. Aber ich konnte nicht. Der kurze Blick auf ihn damals im Regen genügte nicht. Das war keine Begegnung gewesen, und es zu behaupten, würde mich zu einer Lügnerin machen, wie sie eine war. »Nein«, fauchte ich. »Aber ich werd ihn treffen.«
»Wirst du nicht! Niemand trifft ihn. Schon seit Jahren nicht. Er versteckt sich, aber er sieht alles.« Langsam rollte sie zu mir zurück, beugte sich hinunter, um ein Lamm zu streicheln, und flüsterte: »Sein Kopf ist eingedrückt. Ganz blutig und schrecklich. Grässlich.«
Sprich niemals schlecht von den Toten. Wer hat das gesagt? Ist es also falsch, wenn ich gestehe, dass ich sie hasste? Von allem Anfang an? Dass alles an ihr mich störte und traurig machte? Dass ich sie nicht hier haben wollte auf unserem Hof?
»Ist Daniel da?«, fragte sie. »Ist er in seinem Wohnwagen?«
»Nein«, schnappte ich, »ist er nicht.«
Ich sah ihr nach, als sie die Straße hinunterglitt, zurück nach Hause. Ihre silbernen Rollschuhe blitzten in der Dunkelheit. Erst jetzt wird mir bewusst, dass sie wie durch Zauberei nicht schmutzig waren. Wie war das möglich? Aber sie sollten bald schmutzig gefunden werden - zumindest einer davon.

In den folgenden neun Wochen sah ich sie immer wieder - im Dorfladen, in Lampeter, auf dem Schulhof von St. BartÕs, nachdem meine Großeltern beschlossen hatten, dass ich mich genügend erholt hätte, um wieder in die Schule zu gehen. Und hier und da sah ich sie auch auf unserer schattigen Straße wie eine Ballerina auf ihren Rollschuhen herumwirbeln. Aber es kam nie wieder zu einem richtigen Gespräch. Das Gespräch im Stall war alles gewesen. Alles, was wir einander je gesagt hatten - dass Rothaarige schlechte Menschen seien und dass Billy verrückt sei. Wir waren nie Freundinnen, wir bedeuteten einander nie etwas. Meine Erinnerung an Rosie ist also vor allem eine Erinnerung an jenen Abend, an unsere erste Begegnung - an unseren übel zugerichteten, dreckigen Hof im Februar, unter einem kerkergrauen Himmel mit Krankheit in der Luft, und wie sie sich strahlend von alldem abhob. Sie leuchtete. Ihre perfekte Haut, ihr perfektes Haar, dieses Lächeln.
Mrs. Maddox sollte mir eines Tages sagen, dass weiße Blumen abends am schönsten seien; sollte ich einmal welche als Tischschmuck für ein Fest brauchen, sollte ich sie am Abend pflücken. Wie optimistisch von ihr - wann würde ich je ein Fest geben? Und für wen? Aber ihr Rat ließ mich an Rosie denken. Wenn ich an weiße Clematis oder an Schafgarbe vorbeiging, spürte ich Rosie auf ihren Rollschuhen neben mir herlaufen. Das galt auch für Gemeinen Kerbel, aber nicht für Jasmin. Das war nicht ihre Blume. Er wuchs an der Hinterwand des rosa Häuschens, und ich gönnte ihn ihr nicht. Er stand ihr nicht zu.
Daniel und ich reden manchmal noch von ihr. Nicht oft, aber ab und zu, wenn wir die Nachrichten hören oder eine Zeitung lesen und ihr Name wieder auftaucht. Rosie Hughes. Vor einem Jahr gab es wieder Gerüchte. Ein Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, hatte tief im Brechfa-Wald Knochen gefunden. Ich erinnere mich noch, wie Daniel es mir erzählte, seine Hand lag kühl und angenehm auf meinem sonnenverbrannten Arm, und drei ganze Tage dachten wir kaum an etwas anderes. Wir hofften, dass sie es war. Wir hofften, dass ihre Knochen geborgen, nach St. TysulÕs gebracht und in der Nähe ihrer Mutter beigesetzt werden könnten, mit Blumen auf dem Grab. Wir waren schweigsam an den Abenden, weil der Gedanke uns nicht losließ. Aber die Knochen stammten nicht einmal von einem Menschen. Ein Reh, hieß es schließlich. Ein nahe liegender Irrtum. Nur ein weiterer falscher Alarm, einer mehr in einer langen Reihe, zwei Jahrzehnte, nachdem sie verschwunden war.
Für mich ist sie für immer zwölf - auf glitzernden Rollschuhen, blond, makellos, mit einem Kuchen in einer Keksdose. Irgendetwas hatte sich zwischen uns getan in jener Nacht im Stall bei den Lämmern - etwas, das hinausging über knappe Worte und Abneigung. Irgendwie war da ein Einverständnis gewesen. Was genau, weiß ich nicht. Aber ich hatte ein eigenartiges Gefühl, als ich zu Bett ging. Als wären wir zwei verschiedene Geschöpfe, die in verschiedene Richtungen strebten, und der Stall an diesem Abend war der Ort gewesen, wo sich unsere Wege kreuzten.

Der Prediger
Als ich mich streckte, sah er mein Muttermal. Ich hasse es und sagte es ihm. Aber K legte mir die Hände an die Hüften, bückte sich und küsste die Stelle. Sie würden es alle unmöglich finden, wenn sie es wüssten. Aber ich sage es ihnen nicht. Das gehört uns allein. Und so soll es auch bleiben.
Ich treffe ihn heute um 8 Uhr 30.

So ist das. Kinder hassen ihre Eigentümlichkeiten - es wird mit den Fingern auf sie gezeigt, unverblümte Fragen werden gestellt. Aber wenn wir älter geworden sind, haben wir nicht mehr so viel dagegen. Bei Erwachsenen werden sie zu Besonderheiten, Extravaganzen, zu dem, was uns anders macht. Gerrys verrunzelte Impfpustel zum Beispiel, oder die Narbe, die ich jetzt auf dem Handgelenk habe. Ich war nicht die Einzige, die das kleine, sich neigende Boot meiner Mutter mochte. Mein Vater und ich, wir haben beide nach demselben glatten Fleckchen honigfarbener Haut die Hand ausgestreckt.
Ich bin jetzt 1,77. Groß für eine Frau. Wenn ich auf der untersten Treppenstufe sitze und die Beine ausstrecke, kann ich die Küchentür berühren - eine nutzlose Fähigkeit, aber niemand sonst im Haus hat das je gekonnt. Ich bin blass, an manchen Körperstellen so blass, dass meine Venen königsblau sind. Ich habe überall Sommersprossen, ziemlich viele. Es erübrigt sich, zu sagen, dass ich sie bis zum Ende meiner Teenagerzeit hasste - wenn sie nur zusammenwachsen würden, murrte ich, dann würde ich ganz passabel aussehen. Aber jetzt? Ich habe ein besonderes Häufchen davon auf meinem linken Schulterblatt, von dem Daniel behauptet hat, es sähe wie eine Tulpe aus. Ich ließ mich nicht so schnell überzeugen. Es ist wahr, beharrte er, und trat, während ich schlief, den Beweis dafür an, indem er sie verband. Er hatte Recht, wenn es auch etwas schief war. Als ich mich in der Frühe vor dem Spiegel drehte, sah ich eine blaue Filzstift-Tulpe auf meinem Schulterblatt welken.
Wenigstens etwas, woran man mich identifizieren kann, sollte ich je zerstückelt werden, sagte ich.

Die alte leere Kuhweide hinter dem Haus zog Elstern und Saatkrähen magnetisch an. Sie hüpften über den Schlamm und sammelten altes Heu und kleine Zweige, die unsere Rinder abgerissen und liegen gelassen hatten. Für den Nestbau, das wusste ich. In der Nähe der Fichtenschonung gab es eine Krähenkolonie. Wenn ich dort spazieren ging, krächzten sie über meinem Kopf.
Das Wetter war besser geworden, und das hieß, dass ich mich länger oben auf dem Berg aufhalten konnte. Ich nahm alte Decken und Proviant zur Hütte mit und verbrachte Stunden damit, den Wolken zuzuschauen und nachzudenken. Was bedeutete das, was Rosie an jenem Abend dahergesäuselt hatte? Wer tat denn so etwas: auf Herzen herumtrampeln? Ich nicht. Ich war unschuldig. Aber wer dann? Gab es andere Rothaarige hier, die ich noch nicht kennen gelernt hatte? Unwahrscheinlich. Ich dachte an Mr. Phipps - ich hab schon gehört von den Locken, hatte er gesagt. Und ich dachte an Daniel. Er gehörte mir, nicht ihr. Der Keim in mir wuchs ein Stückchen.
Ich wollte Billy Macklin finden. Ich wollte ihn aufstöbern, um sein Gesicht zu berühren, zu beweisen, dass sie Unrecht hatte. Ich wollte mit ihm über rothaarige Männer sprechen, denn wusste er nicht alles? Das hatte sie jedenfalls behauptet. Er konnte mir, wie alle anderen, etwas erzählen - über mich, über K. Aber im Unterschied zu den anderen war er ein vergessener Mann. Niemand sah ihn, niemand kümmerte sich um ihn, wer also sollte dahinter kommen, wenn ich mich mit ihm traf? Wie sollte meine Großmutter es je erfahren, wenn ich mit ihm über verbotene Themen redete? Ich wusste, er würde mein Geheimnis sein. Ich wanderte zwischen den Schafen umher und fragte mich, ob sie ihn wohl gesehen hatten - einen Mann mit einem grauen Schal und einem preiselbeerfarbenen Mal im Gesicht, der nachts über ihre Weiden schlurfte.
Meine Großmutter spürte, dass ich mich irgendwie verändert hatte. Sie schob die Schuld der Fußfäule zu, denke ich, denn sie beteuerte mir immer wieder, dass es den Kühen jetzt gut gehe, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. »Wein ruhig«, sagte sie, »wenn dir danach ist. Vielleicht fühlst du dich dann besser.«

Es war ungefähr um diese Zeit, dass ich den Prediger sah.
Ich stand vor dem Laden in Lampeter. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.08.2005