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Ein unerwarteter, geheimnisvoller Anblick. Und ich schwor mir, mich eines Tages dort umzusehen.
Aber mehr als alles andere bedeutete die Fußfäule dies: Als wir kurz vor sechs zum Haus zurückkamen, stand dort Rosie Hughes in ihrer pinkfarbenen wasserdichten Jacke und ihren bestickten Jeans, auf ihren Rollschuhen vor und zurück schwankend, und blickte uns mit ihren großen Augen ruhig entgegen.

Rosemary Anne Hughes - ein in dieser Gegend vertrauter Name. Ein Name, der bald Plakate, Anschlagbretter und die Titelseiten von Zeitungen zieren sollte. Ein Name, der den ganzen Sommer lang durch hohle Hände gerufen werden sollte. Sie hieß Rosemary, weil der Geruch nach Rosmarin von der Staudenrabatte im Garten ihrer erschöpften Mutter an dem Tag, als sie auf dem Wohnzimmerboden ihres Hauses vorzeitig zur Welt kam, so stark war, dass diese nichts anderes mehr wahrnahm als ihn. Ich weiß das von Mrs. Maddox. Ich hatte keine Ahnung, wie Rosmarin riecht, bis ich eines Abends an ihrem Haus vorbeikam und mir eine Hand voll von ihrem Busch stibitzte. Ein würziger Geruch, der in der Nase kitzelte und stundenlang an meinen Händen haftete. Von diesem Augenblick an dachte ich jedes Mal an sie, wenn wir Lammbraten aßen.
Wenn es in unserem Dorf eine reiche Familie gab, dann die Hughes. Sie wohnten in einem breiten Backsteinhaus mit kiesbestreuter Zufahrt und einer Reihe von Nadelbäumen davor, die das Haus vor Blicken von der Straße her schützten. Ich wusste nicht genau, was Mr. Hughes eigentlich tat - das wusste niemand -, denn er war selten zu sehen. Jedenfalls bedeutete es Anzug und Krawatte und Swansea, und er verdiente genügend Geld, um Mrs. Hughes mit Diamantenbroschen auszustatten und ihr ein Trainingsrad im Wohnzimmer aufzustellen. Und er verdiente auch genug, um für einen selbstsüchtigen Scheidungsvertrag zu sorgen - eine Regelung, die nur ein Jahr, nachdem Rosie verschwunden war, in Kraft trat - alles andere als freundlich. In Cae Tresaint wurde gemunkelt darüber. Meine Großmutter war erbittert. Sie klopfte ihre Steaks mit einem Ingrimm, der ganz neu an ihr war, fluchte und kniff die Augen zusammen.
»Was bilden die Männer sich bloß ein?«, zischte sie Mrs. Maddox zu. »Warum hauen sie einfach ab, wenn es schwierig wird? Und die armen dummen Frauen können dann schauen, wie sie allein mit allem fertig werden. Sind wir vielleicht selber dran schuld? Sind wir zu blöd? Werden sie alle früher oder später gemein, oder nur die paar Auserwählten?«
Mrs. Maddox war vielleicht nicht die beste Partnerin für ein solches Gespräch. Der verstorbene Mr. Maddox war ein Heiliger gewesen, zumindest in ihren Augen. Wenn sie auf dem Klavier Cole Porter spielte, sang er dazu. Wenn ihr die Seife ausging, steckte er ihr, als Überraschung, eine neue unters Kissen. Die kleinen Dinge, erklärte sie mir, als ich älter geworden war und auf Wolken der Liebe schwebte, die kleinen Dinge sind es, auf die du achten musst, Evie. Große Gesten sind ja ganz schön und gut, aber Liebe zeigt sich in den kleinen Dingen.
»Ein faules Ei halt, Lou«, antwortete sie fröhlich und nippte an ihrem Sherry. »Aber es gibt auch ein paar feine Kerle, vergiss das nicht. Dein Dewi zum Beispiel. Und Daniel. Anständig bis in die Knochen. Das weißt du so gut wie ich. Ein Prachtkerl. Was für ein Fang für die glückliche Frau, die ihn einmal kriegen wird.«
Rosie war ein Einzelkind. Sie hatte Löcher in den Ohren, richtige Löcher für kleine goldene Ohrringe, und ein dazu passendes Armband aus Gold. Walisisches Gold natürlich - aus dem Boden, auf dem wir gingen. Ihr Haar war so hellblond, dass man meinen konnte, es sei gefärbt. Fast weiß in der Sonne, und ihre Augen wirkten dadurch noch blauer. Mir gefiel das nicht - nicht nur ihr Haar, das so anders war als meines, sondern auch, dass sie solche Augen hatte. Diese Farbe! Meine waren trüb im Vergleich dazu. Der Neid keimte in mir auf wie ein weißer Schössling aus einer Bohne.
Sie konnte gut zeichnen. Ich weiß noch, dass ihre Bilder immer in der Schulaula ausgestellt wurden, und sie machte ihre Weihnachtskarten selbst. Einmal sah ich zu, wie sie auf der gewölbten Brücke in Tregaron Pooh-sticks spielte; sie wählte ihren Zweig sorgfältig, als hinge etwas Lebenswichtiges davon ab. Alle Jungs wollten sie küssen. Ein paar Mal schlich ich mich an sie heran und forderte sie dazu heraus, auf einen Baum zu klettern oder ein Blatt vom wilden Knoblauch zu essen, in der Hoffnung, sie ins Schwitzen zu bringen. Aber sie lehnte jedes Mal mit einem wissenden Lächeln ab. Und einmal sah ich unter ihrer Schuluniform weiße Spitze aufblitzen und war hingerissen. Wie sich so etwas wohl anfühlte auf der Haut? Und wann würde ich einmal so etwas haben? Das sind die Dinge, an die ich mich erinnere.
Wenn sie nicht verschwunden wäre, wäre sie sicher Malerin geworden. Eine Künstlerin mit einem Haus tief im Kambrischen Gebirge vielleicht. Bestimmt verheiratet - wer hätte sie nicht gern geheiratet mit diesen Augen und dem langen blonden Haar?
Und Rollschuhe - ich hasse das Geräusch von Rollschuhen. Ich hasse das Zischen und Fauchen - wie Wellen, die sich auf Sand brechen. Vor nicht allzu langer Zeit ist in Newcastle Emlyn ein Mädchen auf Rollschuhen auf der Straße an mir vorbeigesegelt. Ich hätte sie am liebsten umgestoßen, nur damit das Geräusch aufhört. Wie hat Rosie auf ihren Rollschuhen je die steile Straße zu uns herauf geschafft? Eine Frage, die wir uns alle stellten. Die einzige Antwort war, dass sie insgeheim ziemlich sportlich gewesen sein musste, dass eine echte verborgene Kraft in ihr gesteckt hatte. Mit diesem Gedanken versuchten die Leute, Mrs. Hughes in den ersten Tagen zu trösten, bevor irgendwer das Wort Entführung auszusprechen wagte.

* * *
An jenem Abend jedoch, als der Hof nach Formaldehyd stank und unsere Füße in schlammverklebten Schuhen steckten, stand sie sehr lebendig vor unserer Haustür. Sie hatte einen Kuchen gebracht. Er war in eine alte Keksdose verpackt. »Meine Mutter hat gemeint, dass Sie heute Abend vielleicht zu müde sein werden zum Kochen.«
Eine großzügige Geste, das musste ich zugeben. Meine Großmutter gab matte dankbare Laute von sich. Ich inspizierte die Dose und hoffte auf einen Obst- oder Streuselkuchen.
»Wie nett von ihr, Rosie. Wir lassen uns ganz herzlich bedanken. Richtest du ihr das bitte aus?«
»Wie geht es den Kühen?«
»Die meisten sind über den Berg. Wir haben es jetzt im Griff, das ist die Hauptsache.«
»Und was machen die Schafe?«
»Denen gehtĂ•s gut. Wir haben auch ein paar Lämmer. Möchtest du sie sehen?«
»Und Daniel?«
Ich blickte von der Keksdose auf. Ich musterte die kleinen Haarsträhnen um ihre Ohren, ihren Schmuck, ihre bestickten Jeans, ihre pinkfarbenen Rollschuhe mit den glitzernden Silberstreifen. Zwölf kam mir alt vor.
»Es geht ihm gut«, sagte ich. »Danke.«
Sie richtete den Blick auf mich. Plötzlich kam ich mir hässlich vor mit meiner fleckigen Haut. »Dann bist du also Evangeline.«

Ich ging mit Rosie in den Stall, um ihr die Lämmer zu zeigen. Ich wollte eigentlich nicht, aber meine Großmutter hatte mir einen warnenden Blick zugeworfen. Mach keine Scherereien, hatte er mir gesagt. Nicht nach dem heutigen Tag.
Es war warm im Stall und roch säuerlich. Stroh und Mist klebten an meinen Stiefelsohlen. Die Mutterschafe mahlten mit den Kiefern und beäugten uns misstrauisch. Ich zeigte auf die jüngst geborenen Lämmer, die Zwillinge, und auf das Kleine, mit dem wir Probleme hatten, das Waisenkind. »Das da füttern wir mit der Flasche«, sagte ich, »wie ein Baby.«
Ich hatte erwartet, dass Rosie dahinschmelzen würde. Aber sie bahnte sich nur, die Arme an den Körper gepresst, auf ihren Rollschuhen den Weg durchs Stroh.
»Magst du deine roten Haare?«, fragte sie.
Ich zuckte die Achseln. »Sind schon okay.«
»Aber es gibt nicht viele Leute, die solche Haare haben. Oder?« Sie drehte sich zu mir um.
»Na und? Ist ja wohl nicht verboten.«
»Natürlich nicht. Aber meine Mutter sagt, dass solche Haare was bedeuten. Sie bedeuten, dass du eigensinnig bist«, sagte sie, »und« - ihre Augen weiteten sich - »herzlos.«
»Das ist nicht wahr«, fuhr ich sie an.
»Ist es doch.«
»Wer sagt das?«
»Alle. Das ganze Dorf. Und Daniel. Er hat gesagt, dass ich mich in Acht nehmen soll vor Rothaarigen.«
»Wann?«
Sie strich sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Bevor du hergekommen bist. Ich kenne ihn schon seit einer Ewigkeit. Viel länger als du. Er sagt, Rothaarige wären Lügner. Er sagt, man müsste sich vor ihnen in Acht nehmen, weil sie einem das Herz stehlen und dann darauf herumtrampeln.«
Herz? Herumtrampeln? Ich dachte an Gummi unter den Schuhsohlen, an das Stroh, auf dem ich ging, wie es sein mochte, wenn man auf eine Schnecke tritt. Und was war mit Olwen? Mit Olwen und ihrem wilden Haar? Daniel war mir mit der Hand durch die Locken gefahren und hatte gesagt: Es ist wunderschön, es passt zu dir.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.08.2005