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Er wisse noch, dass er auf einem Baumstamm neben der Wiese gesessen habe, ganz allein, erzählte er mir. Und meine Mutter hätte nicht besonders abwesend gewirkt, sagte er - zumindest nicht mehr als gewöhnlich.
Aber ich glaube schon, dass sie sich an diesem Abend geküsst haben. Ich habe keinen Beweis dafür, aber ich bin trotzdem sicher. Immerhin hat sie in derselben blauen Tinte auf die Rückseite des Einkaufszettels meiner Großmutter viele Male den Buchstaben K geschrieben. Viele, viele liebevoll und bedächtig hingemalte K in allen Variationen: Schreibschrift, Druckschrift, Kleinbuchstaben.

Rosie
Heute ist eine Ansichtskarte gekommen. Von Gerry - meinem besten Schulfreund und, wenn ich ehrlich bin, meinem einzigen. Er ist in Sydney angekommen, und ich kann mir vorstellen, wie er, während ich hier sitze und schreibe, unten am Hafen in der Sonne spazieren geht, mit Glasperlen im Haar und seinem jungenhaften Grinsen. Ich stelle mir Terrassen vor. Ich stelle mir vor, wie die Signalhörner der Fähren tuten. Er fragt, wie es mir geht. Er ist seit mehr als einem halben Jahr weg - irgendwohin, wo es schön ist, hatte er mit einem Achselzucken gesagt, als ich ihn fragte, wohin er wolle. Zwei Wochen, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich ein Baby erwarte - gab es da einen Zusammenhang? Sollte ich böse auf ihn sein, weil er so plötzlich weggegangen ist? Ich bin es nicht, obwohl ich weiß, dass ihn die Neuigkeit nicht kalt ließ, und ich kann auch verstehen, warum - wieder der Altersunterschied, das Unerwartete. Er fehlt mir. Ich vermisse seinen trockenen Humor, seine klugen Worte. So was kriegt man nicht leicht auf eine Ansichtskarte oder über eine rauschende Telefonverbindung mit der südlichen Hemisphäre. Aber ich darf nicht egoistisch sein. Ich darf mir nichts daraus machen, dass er noch nicht gesagt hat, wann er wieder nach Hause kommen wird.
Jedenfalls ist es ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass er glücklich ist. Vielleicht hat er ein Mädchen kennen gelernt - obwohl ich bezweifle, dass eine braun gebrannte australische Schönheit nach seinem Geschmack ist. Eine bloßfüßige Träumerin wäre besser - ein stilles Mädchen, mit dem er in einer Bar irgendwo im Ausland über Gott und die Welt philosophieren kann. Er ist recht eigen auf seine Art. Er ist fröhlich und nett, aber mit Mädchen hat er nie Glück gehabt. Es sieht so aus, als könnte kein Mädchen seinem Ideal gerecht werden. Er verliert rasch das Interesse. In der Hinsicht sind wir offenbar ganz verschieden.
Gerry ist der Beweis dafür, dass es auch jenseits des Brych-Tales Leben gibt. Die Bewohner von Cae Tresaint neigen dazu, das anders zu sehen. Mein Großvater hat mir oft erzählt, dass Mrs. Jessop nie weiter gekommen ist als bis zum Sängerfest in Llangollen. Ich konnte das nicht glauben. »Nicht mal Swansea?«, hatte ich gefragt.
Ich bin zwar immer noch in Pencarreg, aber das ist eine Entscheidung meines Herzens. Anderenfalls wäre ich wahrscheinlich schon lange weggezogen. Schließlich habe ich Wandererblut in mir. Meine Mutter ist mit mir im Leib zu einer Stadt aufgebrochen, in der sie noch nie gewesen war und von der sie nichts wusste, außer dass mein Vater dort sein könnte. Das genügte ihr. Und auch er hat aus seinem Rucksack gelebt. Daumen hoch, Zigarette, eine Karte der Welt im Kopf.
Mit Gerry habe ich an klaren Abenden oft oben auf dem Bergkamm neben der Schäferhütte gesessen, und wir haben uns vorgestellt, was jenseits der Cardigan Bay liegt. Wales, sagte er, sei nur eine verregnete, gottverlassene Provinz mit zu vielen Schafen und zu wenigen Vokalen. Er sehnte sich nach Wärme und Sand, wollte weg von seinen Eltern. Er sprach von Griechenland, Mexiko, Ägypten, Indien - lauter heißen, fernen Ländern voller verlockender Gerüche. Komm mit, sagte er dann, wär doch prima. Aber wir wussten beide, dass ich es nicht tun würde. Ich hatte einen braunhaarigen, grauäugigen Grund zum Bleiben, ganz zu schweigen von dem Hof, um den ich mich kümmern musste, während Gerry bloß die Nase voll hatte von Heuschnupfen, von Straßen, in deren Mitte das Gras wuchs, vom nicht existierenden Nachtleben und von der Tatsache, dass er keinen Job hatte. Außerdem glaube ich, dass er nicht ganz fertig wurde mit dem, was geschehen war - dass er vergebens versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass Rosie hier irgendwo in den Nesseln lag und verfaulte. Genau wie ich wurde er von Träumen gequält, in denen Rosie wie eine Puppe mit hängendem blondem Haar und verbogenem Rücken in den Schatten gezerrt wurde.
Und dann noch die brennende Scheune. Die Narben auf meinem Handgelenk. Noch heute hält er es in keinem Raum aus, in dem eine Kerze brennt; und abgebrannte Streichhölzer hält er zur Sicherheit stets unter rinnendes kaltes Wasser.
Er wollte also immer fort. In Australien, erzählte er mir, gebe es Koalas und Kängurus - ich hörte ihm zu und legte mir im Kopf eine Liste an - und einen riesigen roten Felsen im Zentrum. Der Felsen sei sehr alt, sagte er, und voller Geheimnisse. AyerÕs Rock zu sehen war sein Traum, das wusste ich, seit wir uns an meinem ersten Tag in der Schule begegnet waren. Sogar jetzt noch rufen mir die beiden Worte in Erinnerung, wie wir zwischen den Grasbüscheln saßen, durch Strohhalme Cola tranken und an unseren schorfigen Sommerknien kratzten.
Er wird bald dort sein - zwei Wochen bis zum AR!, hat er an den unteren Rand der Karte gekritzelt. Und was dann? Was passiert, wenn man an seinem Ziel angelangt ist? Was macht der Mensch, wenn alles, was er sich gewünscht hat, wahr geworden ist? Eine Frage, die man besser nicht stellen sollte. Denn hieße das nicht, das Schicksal herausfordern? Auf jeden Fall ist es pessimistisch. Die Antwort auf die Frage sollte heißen: Man ist glücklich. Man hat es nicht mehr nötig, weiterzusuchen.

Mit dem Februar kamen die Brachvögel. Am Abend flogen sie über die Wiesen und Felder und stießen dabei ihre sanften, melodischen Rufe aus, die meine Großmutter beruhigten. »Ein gutes Geräusch«, sagte sie und widmete sich wieder dem Stopfen meiner Socken.
Und ihr Geburtstag kam auch. Bloß kein großes Theater, erklärte sie wie immer, und war dann entzückt, als es doch ein Theater gab. Ich glaube, es war ein glücklicher Tag für sie. Ich gab mein Taschengeld für einen glitzernden Steckkamm aus, und sie trug ihn den ganzen Tag und griff sich immer wieder an den Kopf, um zu prüfen, ob er noch da war. Daniel brachte eine Flasche Wein und zeigte mir, wie man den Korken zieht. Mrs. Maddox schleppte ihre wabbelige Masse zum Hof herauf, um ihr eine Auswahl selbst gemachter Konfitüren zu überreichen - Damaszenerpflaumen, Stachelbeeren und Rhabarber. »Penblwydd Hapus!«, verkündete sie. Ich muss ein erstauntes Gesicht gemacht haben, denn Daniel beugte sich zu mir herüber und erklärte: »Für dich und mich heißt das alles Gute zum Geburtstag.« Auch Reverend Bickley erschien und drückte meiner Großmutter eine hübsch verpackte Schachtel Toffees in die Hand. Und mein Großvater kam mit etwas Glitschigem und streng Riechendem in einer braunen Papiertüte aus der Stadt zurück, und an diesem Abend genossen wir alle sechs ein leckeres Abendessen - frischen Wolfsbarsch von Mr. MacAvoy in Lampeter, den sein Sohn vom eigenen Boot aus vor der Halbinsel Gower gefangen hatte. Fisch imponierte mir, obwohl mir die fussligen Gräten nicht ganz geheuer waren. Aber er war nicht paniert, und ich war ganz erstaunt, dass man Fisch auch anders essen konnte.
Das war auch der Monat, in dem Daniel mich zum ersten Mal zum Viehmarkt in Llandovery mitnahm. Ich erinnere mich an das Geschrei, den Gestank, das Klappern von Hufen auf Metall. Die Männer unterhielten sich über meinen Kopf hinweg; manche zwinkerten mir zu. Der grünäugige Mann aus Cae Tresaint war da und fuhr mir im Vorbeigehen mit der Hand durchs Haar. Ich schaukelte auf den Stangen, hielt den Ochsen, die in ihren Pferchen schnauften, die Hand an die Nasenlöcher, und Daniel hatte Angst, mich zu verlieren - bleib schön in meiner Nähe, sagte er immer wieder, denn was um alles in der Welt würden wir ohne dich machen? Seine Sorge war grundlos - ich wich ihm kaum von der Seite.
Und es kamen weitere anonyme Blumen. Auf der Veranda, neben dem Kratzeisen für die Stiefel, fand ich ein Büschel früher Osterglocken. »Osterglocken!«, sagte meine Großmutter, und es störte sie überhaupt nicht, dass sie noch ganz grün und geschlossen waren wie Muscheln. Obwohl keine Karte dabei war, nahmen wir an, dass es ein Geburtstagsgeschenk sei. Sie bekamen einen stolzen Platz auf dem Fensterbrett in der Küche. Narcissus. Es dauerte eine Woche, bis sich die Knospen öffneten, doch als sie es endlich taten, waren alle sich darin einig, dass sie den ganzen Raum freundlicher machten.

* * *
Aber es sind weder die Brachvögel noch der Barsch, und es ist nicht einmal der Markt, der mir sofort einfällt, wenn ich an den Februar zurückdenke.
Der Regen ist es, woran ich mich vor allem erinnere - wie er Tag und Nacht gegen die Fensterscheiben trommelte; wie meine Großmutter ein Bündel Heu als Damm vor die Hintertür legte; wie Mrs. Maddox kam, um sich Eimer auszuborgen, als ihre Veranda undicht zu werden begann. »Ich könnte ertrinken«, jammerte sie. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.08.2005