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Aha«, sagte sie lächelnd, »hab ich mirÕs doch gedacht.« Sie beugte sich zu mir herüber. »Du willst doch wohl nicht von mir in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht werden, Evie? Dafür bin ich nicht zuständig, weißt du.«
Ich schlürfte meinen Tee. Es war Hagebutte und schmeckte säuerlich. »Nein, es geht um Mad Billy Macklin.«
Sie blinzelte. »Billy? Macklin? Den Namen hab ich schon eine ganze Weile nicht mehr gehört. Warum fragst du? Wieso interessiert dich das?«»Weil ihm ein Pferd an den Kopf getreten hat«, sagte ich. »Das stimmt doch?«
Sie richtete sich auf. »Ja, das stimmt. Seit wann magst du so schaurige Geschichten, Miss Jones? Möchtest du nicht lieber fröhliche Geschichten hören?«
»Ich möchte es nur wissen«, erklärte ich. »Keiner hier sagt mir was. Ich will ihm ja nicht hinterherspionieren oder so.« Und ich verzog den Mund zu einem Flunsch, setzte mein hilfloses Gesicht auf und zupfte an den Fingern. »Ich bin nur neugierig, Mrs. Maddox. Wann ist es denn geschehen?«, murmelte ich. »Und wie?«
Sie stieß nachdenklich die Luft aus. Der Duft der Geranien stieg mir in die Nase. So muss Gift riechen, dachte ich, und der Gedanke machte mich schaudern. »Lass mich mal überlegen. Wann war das? Vor vielen Jahren. Lange bevor du geboren wurdest. Ganz sicher, bevor deine Mutter von hier wegging. Vor zehn Jahren, denke ich. Vielleicht sogar schon mehr. Aber eins kann ich dir sagen« - sie beugte sich zu mir vor, und ihr gewaltiger Busen wogte -, »es war eine grauenhafte Geschichte! Wirklich grauenhaft! Ein Wunder, dass er nicht auf der Stelle tot war.«
Sie rührte in ihrem Tee und schlug zwei Mal mit dem Löffel gegen den Rand der Tasse.
»Was ist denn genau passiert?«, fragte ich.
»Ja also«, begann sie, »er war immer schon ein Einzelgänger. Immer. Schon als er noch ein kleiner Junge war, sah Mr. Maddox ihn oft ganz allein auf der Brücke herumstehen. Keine Freunde, soweit man das beurteilen konnte. Er lebte mit seiner Mutter in einem Haus, das meilenweit von allem entfernt war. Irgendwo da hinten gibt es einen Weg nach Ffarmers« - sie schwenkte den Arm hinter ihrem Rücken -, »da drüben irgendwo, und das ist wirklich der abgelegenste Pfad, den man sich vorstellen kann auf der Welt. Und komisch war sie auch, diese Frau. Eine Spinnerin. Sie hat sich geweigert, Billy zur Schule zu schicken - ob du es glaubst oder nicht, alles, was er weiß, hat er nur vom Hörensagen und aus den Büchern vom Bücherbus. Und offenbar ist sie nie an die Tür gegangen. Auch nicht ans Telefon. Es ist mir schleierhaft, wie man je zu dieser Frau hätte Kontakt aufnehmen können. Und sie hat Billy bei jedem Wetter losgeschickt, um Besorgungen für sie zu machen. Ich erinnere mich noch« - sie wackelte mit dem Zeigefinger, um ihre Worte zu unterstreichen -, »wie ich ihn einmal nass bis auf die Knochen auf der Straße nach Tregaron gefunden habe. Triefnass, sag ich dir! Und er kann damals nicht viel älter gewesen sein, als du jetzt. Sie hatte ihn um Milch geschickt! Bei einem Gewitter! Von einem Dorf, das fünf Meilen entfernt liegt! Was ist das für eine Kindheit, frag ich dich?« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ist dein Tee süß genug?«
»Wohnt er noch da? In dem Haus?«
Mrs. Maddox schlürfte und leckte sich die Lippen. »Offenbar. Nur, wie er das schafft, weiß der Himmel allein. Das Haus ist total verfallen nach dem Tod seiner Mutter. Das ist jetzt einige Jahre her. Angina pectoris, offiziell - das Herz. Aber ich glaube eher, es war der Schock, der sie umgebracht hat. Das einzige Kind so zu sehen - kannst du dir das vorstellen? Ich glaube, es war alles zu viel für sie. Die Nerven haben nicht mehr mitgemacht. Jedenfalls ist dieses Haus nur noch eine Ruine, in der nicht einmal Ratten hausen können. Ich bezweifle, dass er viel Zeit dort verbringt. Es ist schmutzig und ekelhaft.«
»Wo geht er dann hin?«
»Billy?« Sie verzog das Gesicht. »Wer weiß das schon. Er streunt herum. Ich kann mir vorstellen, dass er im Freien schläft.«
Ich sah zu, wie sie ihre Teetasse mit beiden Händen umfasste. Im Freien? Wie ein Obdachloser? Ich wusste Bescheid über Obdachlose. Sie schlugen ihr Lager in Untergrundbahnen auf und schliefen mit eingezogenem Kopf in Hauseingängen, so dass sie aussahen wie einsame feuchte Raupen. »Aber irgendwo muss er doch wohnen!«
Sie zuckte lächelnd die Achseln und leckte sich wieder die Lippen. »Weißt du, was Hausbesetzer sind? Nun, es gibt ein paar leer stehende Häuser hier. Alte Kirchen. Und denk nur an die vielen Außengebäude in einer Gegend wie dieser! Ich weiß nicht genau, wo er jetzt haust, aber wenn ich Billy wär, würde ich schon ein nettes warmes Plätzchen finden, wo ich unterschlüpfen könnte, und da würde ich auch bleiben. Genau das würde ich tun.«
»Und wovon ernährt er sich? Von Beeren?«
»Kann ich dir nicht sagen. Vielleicht durchsucht er nachts die Mülleimer oder so. Aber soviel ich gehört habe, hat er genügend Geld - er hat zu seiner Zeit allerhand kleine Arbeiten fürs Dorf gemacht, Rasenmähen, Wände streichen É Und außerdem war seine Mutter zwar verrückt, aber nicht gerade arm.« Sie verzog den Mund. »Alles ein bisschen eigenartig, wenn du mich fragst.«
Das klang schrecklich. »Wessen Mülleimer?«
»Irgendwelche. Von Pubs vielleicht. Oder Kaffeehäusern. Vielleicht bettelt er manchmal sogar.«
Ich fragte mich plötzlich, ob er vielleicht nachts, heimlich, still und leise, mit vorsichtigen Händen wie ein Chirurg an der Arbeit, auch in unseren Mülleimern herumklaubte. Immerhin hatte ich Geräusche da draußen gehört. Klaute er unsere Eier? Möglich. Aber andererseits, wie konnte er sie braten? Dazu hätte er ein Feuer gebraucht, eine Bratpfanne.
»Jedenfalls«, sagte Mrs. Maddox, die das Ganze offensichtlich genoss und sich in ihrem Stuhl bequem zurechtsetzte, »passiert ist es im Oktober. Ich weiß das noch genau, weil Halloween vor der Tür stand und Mr. Phipps diesen grauslichen grinsenden Kürbis im Schaufenster hatte. Niemand mochte ihn. Ein schreckliches Ding! Ehrlich. Deine Großmutter und ich haben seinen Laden boykottiert. Wir haben uns geweigert, dort einzukaufen. Wer kauft schon gerne in einem Laden ein, der so ein scheußliches, unheimliches Ding im Schaufenster hat?«
Das klang ganz nach Mr. Phipps.
Sie trank ihren Tee aus und stellte Tasse und Untertasse auf den Tisch. »Es ist in Bryn Mawr passiert. Eigentlich kann man niemandem einen Vorwurf machen. Billy hätte es vielleicht besser wissen müssen. Er war so um die siebzehn, aber keiner von diesen wilden Burschen. Wie schon gesagt, eher ein ruhiger Typ. Und er mochte Pferde. Er ist zwar nie auf einem Pferd geritten, aber er hat ihnen Äpfel und Pfefferminzbonbons gebracht. Immer hat er sich beim Reitstall herumgetrieben, ganz für sich allein, und eines Tages ist er hinter einer Stute vorbeigegangen, und Bumm!« - sie schlug mit ihrer knorrigen Faust auf die Stuhllehne.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.08.2005