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Ein Baby Doll wie für Doris Day

Im Bielefelder Wäschemuseum kommen alte Schnittmuster groß heraus

Von Michael Diekmann
und Carsten Borgmeier (Fotos)
Bielefeld (WB). Der »Kammerton A«, nach dem Musiker ihre Instrumente stimmen, wirkt beruhigend. Nach einer bestimmten Zeit hört man das Geräusch nicht mehr, findet Stefanie Müller (30), wendet sich wieder der Arbeit zu und zieht eine feine Naht am Saum entlang. Der »Kammerton A«, das ist das Geräusch der Transmission, die im Wäschemuseum die Nähmaschinen antreibt.
Blick zurück: Schnittmuster von einst dienen auch heute noch als Vorlage in der Näherei.Als wenn es gestern war: Im Wäschemuseum Bielefeld blieb die Zeit 1970 einfach stehen.
Draußen nimmt der Sommer gerade eine Pause. Es schauert, ist bedeckt, eher ungemütlich und fast zum Frösteln. Drinnen ist das »Gesamtkunstwerk« Bielefelder Wäschemuseum wohl so, wie sich der nach vielen Jahren Dornröschenschlaf unverändert erhaltene Nähsaal wohl schon in den Sechziger Jahren dargestellt hat. Allerdings bildete er damals nicht die Kulisse für einen Museumsbesuch, sondern das harte Umfeld, in dem viele Frauen im Nachkriegsdeutschland durch eine Nähtätigkeit ein wichtiges finanzielles Zubrot für die ganze Familie verdienten. Bielefeld war schließlich die Hauptstadt der Textilindustrie - damals.
Irgendwo im großen Maschinenpark Marke Adler, Phoenix, Anker und Dürkopp hat Stefanie Müller ihre Favoritin gefunden. Die Dürkopp aus den Zwanziger Jahren wird von der Transmission angetrieben, per Fußbefehl kann man eine zweite Riemenscheibe umlegen und das Einzelgerät damit an die Antriebswelle der gesamten Maschinenreihe anschließen.
Eine Besonderheit bietet die Bekleidungstechnikerin, die im Hauptberuf in der Meinungsforschung tätig ist, im Museum, auch wenn sie hier häufiger für Besuchergruppen zu Nadel, Faden und Messlatte greift.
Das Stichwort an diesem Tag heißt »Baby Doll«. Die Nachtbekleidung mit legerem Oberteil und kurzer oder langer Hose war in den Sechziger Jahren sehr gefragt. Hollywood-Star Doris Day trug sie auf der Kinoleinwand. Die meisten »Normalfrauen« damals nähten sie selbst, nach Schnittmustern, abgesteckt auf dem Küchentisch und angefertigt abends, wenn die Familie versorgt war.
»Wir hätten schon längst solche Stücke angefertigt. Aber es fehlte immer an Musterbögen«, erzählt Stefanie Müller und präsentiert das Objekt der Begierde: Etwas vergilbt und abgegriffen ist der Papierumschlag des Schnittmusterbogens Größe 38, Marke Simplicity. Verarbeitet werden von der Fachfrau Stoffreste aus einer Wäschenäherei, die fertigen Stücke können im Museum Wäschefabrik erworben werden. Geöffnet ist immer am Sonntag von 11 bis 17 Uhr. Dann tauchen regelmäßig Bielefelder ein in die wunderbare Welt der heimischen Nähgeschichte, kommen zum Fachsimpeln, oft zum Erinnern, manchmal auch zum Wiedertreffen. Sogar ehemalige Kolleginnen von einst haben sich hier schon wieder gesehen, freut sich Museumschef Rüdiger Uffmann. Im Schein der kleinen Arbeitslampen mit Blechkleid bleibt die Erinnerung wach, auch wenn die elektrische Uhr der Fabrik irgendwann auf kurz vor 13 Uhr stehen geblieben ist.

Artikel vom 03.08.2005