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Leitartikel
Neun Babys getötet

Viele Fragen
und kaum
Antworten


Von Wolfgang Schäffer
Neun tote Babys. Umgebracht vermutlich von der eigenen Mutter, direkt nach der Geburt. Die Leichen der winzigen Würmchen verscharrt in Blumentöpfen. Fassungslosigkeit und blankes Entsetzen machen sich breit angesichts eines Verbrechens, das es in diesem Ausmaß in Deutschland noch nie gegeben hat.
Gleichwohl aber tun sich Fragen auf. Fragen, auf die wir vermutlich nie eine wirkliche Antwort bekommen. Denn wer will schon beurteilen, was eine Mutter dazu treibt, immer und immer wieder Kindern Leben zu schenken, um es nur wenige Augenblicke später wieder auszulöschen? Wer kann in der Lage sein, das Seelenleben eines solchen Menschen auch nur ansatzweise zu ergründen?
Worte und Erklärungen wie Verrohung, Gleichgültigkeit, Vereinsamung, vielleicht auch Krankheit, Boshaftigkeit oder gar der Zwang zum Töten machen schon die Runde. Psychologen analysieren vor Kameras und Mikrofonen, ohne auch nur annähernd die tatsächlichen Fakten des Falles zu kennen. Antworten aber geben sie nicht wirklich. Zu unfassbar ist das, was dort in Frankfurt an der Oder in den letzten 16 oder auch mehr Jahren geschehen ist.
Mindestens ebenso unfassbar aber wie diese unvorstellbaren Verbrechen ist die Tatsache, dass sich diese Tragödie vor den Augen von Familienmitgliedern, Nachbarn und Bekannten abgespielt hat. Und keiner hat etwas mitbekommen!? Auch nicht von den Schwangerschaften? Es wäre schon äußerst verwunderlich, wenn eine Frau neun Babys unbemerkt von der Umwelt ausgetragen haben könnte.
Auf der anderen Seite zeigen viele Beispiele ganz anderer Art, wie gering das Interesse am Wohl und Wehe der Mitmenschen oft ist. Da werden Mädchen und Frauen in aller Öffentlichkeit sexuell gedemütigt oder Passanten brutal zusammengeschlagen. Der Verdacht auf Kindesmissbrauch wird lieber zur Seite geschoben, als sich mit dem Problem zu befassen. Und im Wohnblock nebenan stirbt ein vereinsamter Mensch und wird erst Monate später »wegen der Geruchsbelästigung« entdeckt. Alles nach dem Motto: Was gehen mich die anderen an!
Wie falsch diese Einstellung ist, zeigen die neun toten Babys von Frankfurt an der Oder. Sie dürfen durchaus als Sinnbild der um sich greifenden menschlichen Kälte gesehen werden. Vielleicht hätten schon ein paar freundliche Worte oder Anteilnahme am Leben der 39-Jährigen genügt, um diesem eine andere Richtung zu geben.
Diese Taten aber haben sie endgültig in die Sackgasse getrieben. Sie hat sich schuldig gemacht. Sie hat nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen vermutlich neun ihrer Babys getötet. Dass es auf das »Warum« jemals eine konkrete Antwort geben wird, ist kaum denkbar. Es sind einfach zu viele Rätsel, die zuvor gelöst werden müssten. Vor diesem Hintergrund macht sich nicht nur Verzweiflung, sondern auch eine tiefe Traurigkeit breit.

Artikel vom 03.08.2005