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Über Hoch-Zeiten und Abgründe

Wolf Jobst Siedler beklagt: das klassische Bürgertum gibt es nicht mehr

Von Rolf Dressler
Bielefeld (WB). Als sein jüngstes, wiederum höchst lebendig verfasstes »Erinnerungsbuch« gerade herausgekommen war, antwortete der geschichts- und welterfahrene Buchverleger und Publizist Wolf Jobst Siedler auf die Frage, ob eben dieses Buch nicht sehr stark von Wehmut durchzogen sei: Nein, wehmütig sei er durchaus nicht.
Autobiographischer Blick auf Deutsche Geschichte.

Er sage und empfinde heute nur ganz ähnlich wie weiland schon der große Bismarck, als er durch den Hamburger Hafen gefahren und geführt wurde: »Das alles hier ist nicht mehr meine Welt.« Soll heißen: Bismarck habe das Deutsche Reich gegründet, aber die Entwicklung, die eben dieses Reich dann nahm, wurde ihm hernach zunehmend fremd.
Dahingegangen, meint Wolf Jobst Siedler nachdenklich, sei inzwischen das klassische Bürgertum. Und er hegt offenbar schon nicht mehr die Hoffnung, dass es je wiederauferstehen könne. Das klang bereits durch im ersten Band seiner prägenden Erinnerungen mit dem beziehungsreichen Titel »Ein Leben wird besichtigt«, erschienen im Jahre 2000, gleichfalls im Siedler Verlag, Berlin, und seinerzeit gebührend gewürdigt.
Der profunde Zeitzeuge Wolf Jobst Siedler zeichnet nun wiederum die Zeitläufe in den »deutschen« Jahrzehnten nach, deren Hoch-Zeiten und Abgründe ihm selbst, seiner Familie und seinem umfangreichen Freundeskreis in allen nur vorstellbaren Ausfärbungen vom Schicksal zugedacht, beschieden und leidvoll auferlegt waren:
die Rückkehr des kaum 21 Jahre jungen Wehrmachtssoldaten aus der Kriegsgefangenschaft in das restlos zertrümmerte Berlin, die eigentlich unglaubliche Wiedergeburt des Kultur- und Theaterschaffens in der alten deutschen Hauptstadt, das aus allernächster Nähe hautnah miterlebte Niederwalzen des heldenhaften Aufstandes vom 17. Juni 1953 durch sowjetische Panzer in der Sowjetischen Besatzungszone, die un- vergesslichen Begegnungen mit beinahe zeitlosen Zeitgrößen wie dem Ausnahme-Literaten Thomas Mann oder Konrad Adenauer, dem Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Undsoweiter, undsofort. Ein wahres Schatzkästlein ist auch dieses Werk.
Wolf Jobst Siedler: Wir waren noch einmal davongekommen - Erinnerungen; 495 Seiten, Siedler Verlag, Berlin, Verkaufspreis 24,90 Euro.

Artikel vom 13.08.2005