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Der Himmel
über Berlin
Der letzte Rundflug über das Zentrum der Macht
»Tempelhof Tower, hier ist Delta Echo Whisky Bravo Quebec, eine Wilga 35, von Lüsse Rundflug nach Lüsse. Erbitte Rundflug auf Whiskyroute und Midfield Crossing Tempelhof, dann Alex-Funkturm, Gatow.« »Ok. Delta Bravo Quebec, Einflug über Whisky genehmigt.«
Hinter diesem Flieger-Kauderwelsch des so genannten Einleitungsrufes verbirgt sich ein luftfahrthistorisches Ereignis: Zum letzten Mal durften am vergangenen Sonntag Privatpiloten Rundflüge über der Berliner Innenstadt unternehmen. Seit Montag, 1. August, gilt dort aus Sicherheitsgründen ein Flugverbot, weil sich am 22. Juli ein 39jähriger Mörder das Leben nahm, indem er sich mit seinem »Roten Kiebitz« auf die Wiese vor dem Reichstag stürzte. Mit heftigen Protesten haben Privatpiloten und ihre Verbände reagiert. Sie werfen den verantwortlichen Politikern populistischen Wahlkampfaktionismus vor.
Den 31. Juli werden auch die Fluglotsen in Berlin-Tempelhof nicht so schnell vergessen, denn der Luftraum über der Hauptstadt platzte förmlich aus allen Nähten. Sonnenschein, klare Luft und exzellente Fernsicht machten den letzten Tag am Himmel über Berlin zu einem echten Happening. Waren es an einem normalen Sonntag etwa 100 Piloten, die ihre Runden drehten, so meldeten am 31. Juli 170 Flieger den Wunsch an, eine Runde über der City zu drehen. Im Klartext - zuweilen tummelten sich im Bereich des Kontrollzentrums Tempelhof mehr als zehn Flieger gleichzeitig.
Auch Heinz Hoffmann vom Fliegerclub Carl Zeiss Jena, der mit seiner Wilga 35, einem polnischen Schleppflugzeug zur Deutschen Segelflugmeisterschaft auf den Flugplatz Lüsse gekommen war, konnte sich über mangelnde Mitflugwünsche nicht beklagen, nachdem er vormittags einige Wettbewerbsteilnehmer in die Luft befördert hatte.
Start über märkische Wälder -Êschon kommt Potsdam in Sicht, da ist die Glienicker Brücke, an der zu Zeiten des Kalten Krieges gelegentlich Agenten ausgetauscht wurden. Das ist auch der Pflichtmeldepunkt »Whisky 1«, der den Einflug in den Tempelhofer Luftraum in einer Höhe unter 2500 Fuß darstellt.
Über den historischen Airport mit seinem gebogenen Terminal schweift der Blick gen Osten - über Kreuzberg hinweg zur Oberbaumbrücke, da fließt die Spree Richtung Lausitz ab. Doch linker Hand kommen schon die Hochhäuser am Potsdamer Platz in Sicht. Klein wirken sie aus 700 Metern Höhe, da ist der Fernsehturm am Alex schon ein ganz anderes Kaliber.
Im Kopfhörer knackt es, eine ärgerliche Frauenstimme, die schon vorher einen Ultraleichtflieger zweimal zum Einhalten der korrekten Höhe aufgefordert hat, erteilt dem unsicheren Kantonisten einen definitiven Verweis aus dem Luftraum, gleichzeitig muss Heinz Hoffmann aus Sicherheitsgründen 200 Fuß absinken. Der »Telespargel« scheint zum Greifen nah. Dahinter klafft ein riesiges Loch - was wird denn da gebaut? Wo soll man überhaupt zuerst hinschauen? Auf den mächtigen Dom? Auf den zum Abriss bestimmten »Ballast der Republik«?
Die »Linden« liegen jetzt direkt unter uns. Mit 150 km/h über Berlin: Ein Feuerwerk an Bildern prasselt auf die Netzhaut: Da steht der Reichstag mit seiner Kuppel, aus der Höhe kann man die Dimensionen der neu errichteten Bauten im Machtzentrum der Hauptstadt viel besser wahrnehmen. Das Kanzleramt, von den Berlinern »Waschmaschine« getauft, ist in seiner avantgardistischen Architektur von oben ein echter Hingucker. Und schon kommt der riesige Lehrter Bahnhof in Sicht: Dort wurden vergangenes Wochenende in einer spektakulären Aktion Brückenteile über den Fahrweg geschwenkt.
Die Siegessäule gerät ins Blickfeld, die Gold-Else auf ihrer Spitze scheint zu winken. Wo wohnt der Bundespräsident? Schloss Bellevue, sein Amtssitz, ist auch aus der Luft als Großbaustelle zu erkennen. Oh je, jetzt habe ich gar nicht aufs Brandenburger Tor geachtet. Wo sind die Gebäude der Bauausstellung? Die Augen tasten sich entlang des Häusermeeres, doch da kommt schon der Zipfel des Tiergartens in Sicht, der seinem Namen alle Ehre macht - da unten liegt der Zoo, aha, der hohle Zahn der Gedächtniskirche ist zu sehen, man klebt förmlich an ihr, versucht andere markante Gebäude zu lokalisieren. Schloss Charlottenburg - oh, wie groß ist der Park! Sekunden später - das ICC, ebenfalls dem Abriss geweiht, das riesige Messegelände, dahinter das Olympiastadion mit dem Maifeld - und schon glitzert wieder das Wasser des Wannsees unter uns.
Und Griebnitzsee, Heiligensee - Erinnerungen an schöne Schifffahrten kommen auf, dort unten war alles gemütlich, hatte das Auge Zeit sich an der Schönheit der grünen Stadt zu erfreuen. Nun sind schon die charakteristischen Terrassen von Schloss Sanssouci im Blickfeld. Parks, Paläste, Prunkvillen -Êdoch Augenblicke später zeigt Hoffmann schon wieder nach vorne: »Da liegt unser Landeplatz«.
Eine Stunde kann verdammt lang sein, wenn man irgendwo wartet - oder gar auf dem Zahnarztstuhl ausharren muss. Aber am Himmel über Berlin - da verging eine Stunde wie im Fluge....!
Thomas Albertsen

Artikel vom 06.08.2005