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Schwerer Stein
hing an ein paar
dünnen Stiften

Rathausfassade wird besser gesichert

Von Matthias Meyer zur Heyde und Carsten Borgmeier (Foto)
Bielefeld (WB). Ungläubiges Staunen malt sich ins Gesicht des Restaurators. Ein kaum fingerdicker, gerade sieben Zentimeter langer, halb verrosteter Eisenstift sollte drei Zentner Sandstein sichern.

Wie konnte das 101 Jahre halten? »Ich habe keine Ahnung!« Gut 20 Jahre lang hat Franz Stohldreier, Chef eines Paderborner Fachbetriebs für Bau- und Denkmalpflege, als Restaurator gearbeitet, aber so etwas sehen der 46-Jährige und seine Mitarbeiter nur selten. »Höchste Zeit, dass hier sicherheitstechnische Maßnahmen ergriffen werden« - da schwebt auch schon das nächste Giebelschmucktürmchen auf die bereitliegende Palette. Die Sanierung der Rathausfassade hat begonnen.
Ein paar Eisenstifte, die 1904 beim Rathausbau verwendet wurden, will Hubert Ostrau zu Anschauungszwecken ins Büro mitnehmen. Ostrau ist beim Immobilienservicebetrieb (ISB) zuständig für die Pflege der lokalen Verwaltungsbauten, und dieser Auftrag ist etwas Besonderes für ihn. »So ein schönes Gebäude! Da lohnen sich die Maßnahmen doch doppelt.«
50 Tonnen wiegt der Lastenträger-Mobilkran LTM 1070.4.1, den Wolfgang Vollriede von der Firma »Auto-Rent« bis 50 Meter ausfahren kann. »Mehr links! Ausleger ab!« Per Funk wird der Kranführer unterrichtet, wohin er den Haken mit den festen Gurten dirigieren soll. Aus dem Korb des 33 Tonnen schweren Hubsteigers der Firma »Begemanns Mietlift«, den Benjamin Heese zur Giebelspitze des Rathauses (35 Meter) gelupft hat, beugen sich die ausgebildeten Restauratoren Neithard Kein und Guido Hartmann zur »Bekrönung« hinüber, hängen sie in die Gurte, lösen die ein Jahrhundert alte Zementverfugung und schicken die gut sechs Zentner schwere Fracht nach unten.
Dann bohren sie mit dem 32er ein tiefes Loch ins Giebelfundament. Die Gewindestangen, die später hier verdübelt werden, sind 60 Zentimeter lang - zehnmal so lang wie die winzigen Stifte der Maurer zu Kaisers Zeiten. Für den atemberaubenden Panoramablick über die Dächer der Teutometropole haben sie kaum Augen.
Gebohrt wird auch 35 Meter tiefer - von Stohldreier und Joe Waters, einem schottischen Dachfacharbeiter, der »wegen einer schönen Frau« in Deutschland hängen blieb. Der Sockel der abmontierten Sandsteinverzierung soll schließlich die andere Hälfte der Gewindestange aufnehmen. »Alles wird zudem mit Epoxidharz verklebt«, erläutert Stohldreier. Und das hält? »Kürzlich brannte mal eine Kirmesbude vor einer Wand, die wir restauriert hatten, und die Hitze sprengte ganze Quader aus der Wand. Was stehenblieb, war unser Epoxid-Gerüst - so viel zum Thema Haltbarkeit.«
Stohldreiers Mitarbeiter Uwe Scheel, in Bielefeld als Baustellenleiter tätig, muss mehr Material holen. Derweil sieht sich ein anderer kritisch auf dem Rathausvorplatz um, ob auch alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden. »Ich bin zufrieden«, sagt der Mann mit der vermutlich längsten Berufsbezeichnung der Welt: Baustellenkontrolleur Diplomingenieur, Architekt, Sicherheits- und Gesundheitskoordinator, Fachkraft für Arbeitssicherheit Robert Brameyer hat sich überzeugt, dass die Absperrung perfekt ist und die Helmpflicht eingehalten wird.
Unterdessen vertieft sich Stohldreiers Ehefrau Jeanine im Stadtarchiv in die Baugeschichte des Rathauses. »Wir dokumentieren jeden unserer Schritte und listen das verwendete Material auf.« Damit Nachfolgearbeiten, so sie denn nötig würden, punktgenau einsetzen können.
Interessiert schauen Passanten über die rot-weißen Absperrbänder. Hans Wesselmann (77) fotografiert sogar. »Ich schicke die Bilder meinem Sohn in Berlin und meiner Tochter in Australien. Die Kinder müssen doch wissen, was in Bielefeld vor sich geht!«
l Das Team der Restauratoren und Steinmetze, der ISB-Spezialisten, der Kran- und Korbführer weiß, was zu tun ist. Nur über eine Sache herrscht Unklarheit: Wie heißen die Verzierungen, denen der 25 000 Euro kostende Aufwand gilt? Presseamt und ISB sprechen von Fialen, der Restaurator von Obelisken. »Fialen müssten stärker verziert sein - aber das schaue ich noch mal im Fachlexikon nach«, kündigt Stohldreier an.

Artikel vom 02.08.2005