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Schüler im Urlaub verschollen

Janis kehrt nicht ins Hotel zurück -ĂŠEltern suchen Sohn (18) seit einem Jahr

Von Christian Althoff
Oerlinghausen (WB). Es war der Satz, den jede besorgte Mutter sagt, wenn ihr Kind alleine verreist: »Pass' auf dich auf!«, rief Maria Stendzenieks (48) aus Oerlinghausen ihrem Sohn Janis (18) nach, als er heute vor einem Jahr in den Urlaub flog. Sie hat ihren Jungen nie wiedergesehen.
Maria Stendzenieks zeigt ein Foto ihres Sohnes, das sie auf viele Fahndungsplakate hat drucken lassen. »Ich hoffe, dass irgendjemand den Jungen wiedererkennt und ich sein Schicksal endlich klären kann«, sagt die alleinerziehende Mutter.Fotos: AlthoffDas Hotel Londonskaja in Odessa: Hier wohnte der Schüler.
Solche Suchplakate hat die Mutter in englisch, türkisch, griechisch, spanisch, polnisch und russisch drucken lassen - insgeamt 10 000 Stück.

»Janis ist ein in sich gekehrter Junge. Er ist mir im Haushalt immer zur Hand gegangen, hat aber andererseits jedes Hilfsangebot abgelehnt, wenn er glaubte, ein Problem selbst lösen zu können«, erzählt die Mutter. Sie ist Diplom-Chemikerin, stammt aus Russland und kümmert sich seit ihrer Scheidung vor sechs Jahren alleine um den Jungen und seinen zwei Jahre älteren Bruder Artur. Während dieser an der Uni Bielefeld studiert, besuchte Janis bis zu seinem Verschwinden das Gymnasium in Oerlinghausen. »Bis zur elften Klasse war er ein sehr guter Schüler«, erinnert sich die Mutter. Doch dann hätten seine Leistungen nachgelassen, und er habe über die Gründe nicht sprechen wollen: »Er las viel über Psychologie und Philosophie, aber er fand wohl keine Antworten auf seine Fragen. . .«
Im Sommer vergangenen Jahres entschloss sich der Schüler dann überraschend, zwei Wochen Urlaub in Odessa zu verbringen. »Ich habe zu ihm gesagt: Was willst du in der Ukraine? Flieg doch lieber nach Spanien oder Italien!«, erzählt Maria Stendzenieks. Immer wieder habe sie Janis Angebote von Reisebüros aus der Zeitung ausgeschnitten, aber der Junge sei nicht umzustimmen gewesen und habe seinen Entschluss auch nicht begründen wollen. »Schließlich war er 18 Jahre alt. Ich konnte ihn ja nicht mit Gewalt zurückhalten.«
Am 2. August 2004 flog der Schüler von Hannover nach Odessa - mit dem Versprechen, seine Mutter jeden Tag anzurufen. Er hielt seine Zusage und meldete sich täglich aus dem Hotel Londonskaja. »Bei einem dieser Anrufe bat mich Janis um die Erlaubnis, einen Bootsausflug machen zu dürfen. Für mich ein Zeichen dafür, dass er sich trotz seiner 18 Jahre eben doch noch nicht völlig abgenabelt hatte«, sagt die Mutter.
Maria Stendzenieks erinnert sich noch genau an den 10. August 2004 - jenen Tag, an dem ihr Sohn verschwand. Sie arbeitete wie üblich als Reinigungskraft bei Dr. Oetker, als sie gegen 14 Uhr ein ungutes Gefühl beschlich: »Ich fühlte, dass irgendetwas mit Janis geschehen war.« In Sorge beeilte sich Maria Stendzenieks, nach Hause zu kommen, um auf den täglichen Anruf zu warten. Doch das Lebenszeichen blieb aus.
»Mein geschiedener Mann und ich sind drei Tage später nach Odessa geflogen«, erinnert sich die Mutter. Sie habe sich acht Wochen, ihr Mann sogar drei Monate in der Ukraine aufgehalten, um nach Janis zu suchen - vergeblich. Die Hotelangestellten hatten berichtet, dass Janis das Londonskaja am 10. August verlassen hatte. In seinem Zimmer fand Maria Stendzenieks nahezu das gesamte Geld, das ihr Sohn aus Deutschland mitgenommen hatte (»Er hatte in Odessa nur 100 Euro ausgegeben«), außerdem seine Papiere und den Großteil seiner Kleidung.
Seit einem Jahr bestimmt nun die Suche nach ihrem Sohn das Leben der Oerlinghausenerin. Sie weiß nicht, wieviel Geld sie schon ausgegeben hat, um tausende von Suchplakaten in unterschiedlichsten Sprachen drucken zu lassen. »Ich habe sie in der Ukraine in Bussen und Bahnen aufgehängt, 600 Stück in einer Polizeischule verteilt, bei Kirchen und Sekten nachgefragt und an Klosterpforten geklopft«, erzählt die Mutter und sagt verbittert: »Ich bin auf mich alleine gestellt, denn die ukrainischen Behörden sind keine Hilfe.«
Man habe ihr erklärt, in der Ukraine würden etwa 1000 junge Menschen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren vermisst. »Die können Janis' Namen noch nicht einmal in ihrer Vermisstendatei finden, und die DNA-Analyse, die wir in Deutschland haben machen lassen, ist in Odessa verschwunden«, sagt die Mutter. Sie fürchtet, dass ihr Sohn entführt worden ist, zumal sich ein Anrufer auf eines der Fahndungsplakate hin gemeldet und behauptet hatte, Janis sei als Arbeitssklave nach Griechenland verschleppt worden. Janis' Vater ist inzwischen in der russischen TV-Sendung »Warte auf mich!« aufgetreten, und die Mutter plant derzeit ebenfalls, in einer Fahndungssendung über Janis' Schicksal zu berichten. Zwar können die Eltern nicht ausschließen, dass ihr Sohn umgebracht worden ist, »aber hätte man dann nicht seine Leiche finden müssen?«, fragt die 48-Jährige.
Dass Janis freiwillig untergetaucht sein könnte, hält die Mutter für unwahrscheinlich, da sich ihr Sohn bis zuletzt täglich gemeldet hatte und die Kripo Detmold auf dem Computer des Schülers keinen Hinweis darauf entdeckt hat, dass der Gymnasiast Kontakte in die Ukraine unterhalten und seinen Ausstieg vorbereitet haben könnte. »Außerdem hätte Janis dann ja wohl Geld und Papiere mitgenommen«, sagt Maria Stendzenieks.
Hugo Prante (67), der frühere Leiter der Herforder Polizei, kümmert sich als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Opferschutzorganisation »Weißer Ring« um Maria Stendzenieks und hat Kontakt zu einem Pfarrer in Odessa vermittelt, der als Anlaufstelle fungiert. »Es ist beeindruckend, mit welchem Engagement diese Frau nach ihrem Sohn sucht«, sagt der pensionierte Polizist, den allerdings düstere Ahnungen plagen: »Ich befürchte, dass der Junge nicht mehr lebt. Aber ich verstehe, dass die Mutter unermüdlich weitersucht, um irgendwann endlich Gewissheit zu haben - so oder so.«

Artikel vom 02.08.2005