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Leitartikel
EU-Beitritt der Türkei

Niemand
zieht die
Notleine


Von Dirk Schröder
Es ist doch Augenwischerei, was hier von der Türkei mit tatkräftiger Unterstützung des britischen EU-Ratspräsidenten Tony Blair betrieben wird. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat am Wochenende das Ankara-Protokoll unterzeichnet, das die Zollunion mit der Europäischen Union auch auf Zypern ausdehnt. Dies gilt allgemein als letzte Hürde vor dem für den 3. Oktober geplanten Beginn von EU-Beitrittsgesprächen mit Ankara.
Das darf aber doch nicht wahr sein. Denn mit einem Zusatzprotokoll, dass damit aus türkischer Sicht keine diplomatische Anerkennung Zyperns verbunden ist, hebt Erdogan doch das, was er vorne unterschreibt, hinten gewissermaßen wieder auf. Schon das im Dezember vereinbarte Ankara-Protokoll mit der damit indirekten Anerkennung Zyperns war der minimale Nenner, auf den sich EU und Türkei als Voraussetzung für den Beginn der Beitrittsgespräche geeinigt hatten.
Jetzt weicht Erdogan auch noch von diesem Weg ab. Da kann es eigentlich nur eine Schlussfolgerung geben: Die Grundlagen für den Beginn der Gespräche sind nicht gegeben. Sie können folgerichtig auch nicht am 3. Oktober starten. Es kann ja wohl nicht angehen, dass mit einem Land über den Beitritt verhandelt wird, das nicht alle 25 Mitglieder der Union, der es beitreten möchte, anerkennt.
Man wird das Gefühl nicht los, dass die türkische Seite die EU-Seite nicht ernst nimmt, weil sie sicher glaubt, dass die Verhandlungen auf keinen Fall verschoben werden. Und sie kann sich wohl auch sicher sein. denn die Bundesregierung wird auf keinen Fall die Notleine ziehen. Und auch Tony Blair hat Erdogan doch mit seiner Äußerung, die Unterzeichnung des Protokolls schließe nicht die Anerkennung Zypern ein, gerade den Rücken gestärkt. Wobei Blairs Motive im Dunkeln liegen. Einerseits unterstützt er den Beitritt, weil die USA dies wünschen. Andererseits hofft er heimlich, dass die EU nur umso rascher zerbricht, je mehr Länder ihr beitreten. Schon heute ist die EU nicht richtig handlungsfähig, und mit dem Beitritt weiterer Länder, wenn sie zudem noch die Größe der Türkei haben, wird es nicht besser. Im Gegenteil.
Ist es nun Gutgläubigkeit oder wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs es gar nicht so genau wissen? Die Türkei hat zwar Gesetze geschaffen, um Vorbedingungen für die Beitrittsgespräche zu erfüllen. Doch mit der Umsetzung ist es nicht weit her. Warum auch, wenn die EU nicht entschlossen nachsetzt.
Beispielsweise hat der Druck auf die Christen bisher in keinster Weise nachgelassen. Und wenn noch in diesen Tagen in der Türkei ein Kurdenpolitiker zu zehn Monaten Haft verurteilt wird, nur weil er den zu lebenslanger Haft verurteilten PKK-Führer Abdullah Öcalan in einer Wahlkampfrede als »Herr Öcalan« bezeichnet hat, muss sich die EU fragen lassen, warum sie am Verhandlungsbeginn 3. Oktober festhält. Die EU-Beitrittskriterien werden von der Türkei auf jeden Fall nicht erfüllt.

Artikel vom 01.08.2005