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Schon 1765 stand Willi aus Rheda auf dem Münster
Straßburg ist seit Jahrhunderten eine Reise wert - »Brücke« nach Frankreich
Dass sich die Franzosen selbst als »grande nation« sehen, wird in Straßburg auf besondere Weise karikiert. Denn das puppenstubenhafte Touristenviertel mit den schönsten Fachwerkhäusern an der Ill nennt sich ausgerechnet »Petit France« - Klein-Frankreich.
Ursprünglich waren hier die Handwerker beheimatet, heute zocken gierige Gastronomen dort die Urlauber ab. Groß sind in Petit France nur die Preise. Fünf Euro für ein Bier - das lässt einem den Flammkuchen im Halse stecken bleiben. Besser, man »bunkert« ein gutes Fläschchen elsässischen Weines und zecht auf einer der vielen Bänke mit Blick auf die wohl kurioseste Sehenswürdigkeit des Viertels. Dabei handelt es sich um die Fasanenbrücke, die für jedes passierende Schiff zur Seite gedreht werden muss.
Straßburg rühmt sich überhaupt seiner Brückenfunktion: Die Metropole am linken Rheinufer ist für den deutschen Südwesten das Tor nach Frankreich, für die Schifffahrt gar das »Carrefour d'Europe« - der Knotenpunkt Europas. Hier werden Rhein, Ill, Rhein-Marne-Kanal und Rhein-Rhone-Kanal miteinander verknüpft.
Umstritten hingegen ist der Zweitsitz des Europäischen Parlaments: Der »Tourismus« von Abgeordneten und Kommission, die zuweilen von Brüssel anreisen, kostet die EU-Steuerzahler Millionen. Dabei hat Straßburg diese unnötige Reiserei gar nicht nötig, denn als eine der schönsten Städte Frankreichs zieht die Metropole ohnehin die Touristen in Scharen an.
Viele kommen mittlerweile auf dem Wasserweg - Flusskreuzfahrten werden immer populärer. Und so ist der Quai des Belges inzwischen so ausgebaut, dass mehrere Passagierschiffe dort anlegen können. Vorbei an den Resten der Zitadelle gelangt man zur Straßenbahn, die einen direkt ins Stadtzentrum und damit zum Münster bringt. Es ist nie fertig geworden und dennoch eine der eindrucksvollsten Kathedralen der Welt.
Das Straßburger Münster, im Wesentlichen vom 12. bis 15. Jahrhundert entstanden, zählt zu den schönsten Kirchen Europas. Ursprünglich als karolingisches Bauwerk errichtet, präsentiert es sich vornehmlich gotisch, wenn auch die beliebteste Sehenswürdigkeit, eine 18 Meter hohe astronomische Uhr, aus der Renaissance stammt. Die Mathematiker Konrad Dasypodius und David Wolkenstein zeichneten für Uhrwerk und Automaten verantwortlich. Es lohnt sich, das Münster mittags zu besuchen, weil um 12 Uhr die zahlreichen Figuren der Uhr sich bewegen und die komplizierte Lesart erläutert wird. Das Äußere des Münsters ist eine besondere Betrachtung wert. Nicht nur der reiche Figurenschmuck beeindruckt, sondern auch die ungleiche Fassade. Bis 1365 wurden zwei Turmstümpfe errichtet.
Die Fassade sah, den Umständen entsprechend, also nicht sehr ästhetisch aus. Als die Stadt reicher wurde, entschieden sich die Bürger dafür, den Ulmer Architekten Ulrich von Ensingen damit zu beauftragen, einen Konstruktionsplan für eine Turmspitze zu erstellen. Diese wurde 1439 von Jean Hultz fertig gestellt. Warum nur eine Spitze? Weil das Fundament, das nur für zwei mittelgroße Türme vorgesehen war, keine zweite Spitze getragen hätte.
Von der Mittelplattform in 66 Metern Höhe genießt man einen schönen Blick auf die Stadt, die Vogesen, die Rheinebene und den Schwarzwald. Besucher aus Ostwestfalen geraten beim Aufstieg ins Staunen - denn auf der Plattform erinnert ein Gedenkstein mit der Jahreszahl 1765 an Wilhelm Girke und Heinrich Köhne aus Rheda. Der wohlhabende Kaufmann Girke - er hatte exzellente Kontakte nach Bremen, belieferte die Rhedaer Blaufärber mit Indigo und handelte nebenher noch mit Gewürzen -Êhatte am 8. August 1765 die Regierungsratstochter Dorothea Gerstein geehelicht.
Im selben Jahr betete er auf einer seiner Reisen im Straßburger Münster. Der als frankophil und streng calvinistisch beschriebene Girke bewohnte nach historischer Nummerierung das Haus Steinweg 9, 1651 im Stil eines »maison de plaisance« errichtet. Seit dem 19. Jahrhundert gehört es der Rhedaer Fürstenfamilie. Vermutungen, dass Girke für das Münster eine beträchtliche Summe Geld gespendet hat, treffen jedoch nicht zu. Vielmehr handelt es sich bei den Namenstafeln um eine frühe, edle Form des Graffiti -Êund sie bedeuten nichts anderes, als dass die dort verewigten Personen das Münster persönlich besucht hatten. Heute kritzeln die Besucher ihre Namen mit Filzstift in die Treppenhäuser oder ritzen sie in die Steine. Thomas Albertsen

Artikel vom 13.08.2005