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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Den Nobelpreisträger für Literatur Elias Canetti (1905-1994), der in diesem Juli 100 Jahre alt geworden wäre, hat ein Thema besonders stark beschäftigt: der Tod. Noch als Achtzigjähriger notiert er: »Ich verfluche den Tod, ich kann nicht anders. Und wenn ich darüber blind werden sollte, ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück.«
Das hört sich an wie der Wutausbruch eines Kindes, das sich in etwas Unvermeidliches nun einmal nicht schicken mag, das trotzig auf die Erde stampft und dabei immerzu schreit: Ich will nicht! Trotzdem wird es ihm am Ende so wenig nützen, dagegen aufzubegehren, wie dem Literaten sein Fluch und sein fester Entschluß, den Tod zurückzustoßen. Das ist noch niemandem gelungen.
So naiv, dies anzunehmen, ist Canetti freilich nicht. Sein Zitat ist auch auf dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte zu verstehen: Noch als Kind verliert er den Vater, und besonders in späteren Jahren haben ihn die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und dem, was damit verbunden war, nie losgelassen. Das massenhafte Sterben auf den Schlachtfeldern, die Millionen Toten der Vernichtungslagen, dies und anderes mehr hat sein Denken für immer in Beschlag genommen. Sein Widerstand gegen den Tod ist also zugleich ein Protest gegen das Töten und somit auch Ausdruck einer humanitären Gesinnung.
Doch darüber hinaus hält Canetti das Sterben überhaupt für sinnlos und kann dem Tod nichts Positives abgewinnen. Für Denker, die das anders sehen, hat er nur Verachtung übrig. Ihm ist der Tod einzig und allein der größte Feind.
Aber ist das alles, was zu diesem Thema zu sagen ist? Kann nicht der Tod zumindest manchmal das kleinere Übel sein? Man denke nur an Menschen, deren Leben unter einem schier endlosen Siechtum zu einer einzigen Qual geworden ist oder die, völlig geistig umnachtet, nur noch als ein Schatten ihrer selbst dahindämmern, aber in ihrer Gefühlswelt gleichwohl sehr deutlich spüren, daß mit ihnen von Grund auf etwas nicht mehr stimmt.
Gibt es nicht auch für das Leben überhaupt sein erträgliches und bekömmliches Maß, dessen Überschreitung dann eher als Last denn als Gnade und Segen empfunden wird? Das meint die schöne Redewendung des Alten Testaments, einer starb »alt und lebenssatt, in dem Gefühl also: Es ist jetzt genug; mehr braucht es nicht zu sein, und mehr dürfte es vielleicht auch gar nicht sein.
Die Bibel hütet sich allerdings, den Tod zu einem Freunde zu verklären, am entschiedensten die alttestamentliche Tradition, aus der auch Elias Canetti kommt. Heißt es gelegentlich auf Todesanzeigen oder in Traueransprachen, der Tod habe jemanden »erlöst«, so weiß man zwar, was damit gemeint ist. Aber streng genommen ist diese Aussage völlig unbiblisch. Dem Tod wird in der Bibel nämlich keinerlei erlösende Qualität zuerkannt. Der Mensch wird nicht durch den Tod, sondern er wird vom Tode erlöst.
Ausdrücklich bezeichnet denn auch der Apostel Paulus - ähnlich wie Elias Canetti - den Tod als »Feind«. Er sei der »letzte« und damit wohl auch der größte und der schlimmste Fein des Menschen. Er treibe nämlich in eine Beziehungslosigkeit und Isolation, aus der es ohne Erlösung keinen Ausweg gebe. Allerdings ist der Tod für Paulus nicht nur der »letzte Feind«, der dann ja auch das letzte Wort hätte. Vielmehr schreibt er in dem großen Kapitel über die Auferstehung Jesu Christi: »Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod« (1. Kor. 15, 26). Darum ist ihm bereits jetzt die Macht genommen; er vermag einen Menschen von der Liebe Gottes nicht zu scheiden.
Wer sich das sagen läßt, kann eher seine Vergänglichkeit annehmen als ein Denker vom Schlage Elias Canettis, dem diese Sicht verschlossen war. Er vermag loszulassen, was nicht mehr zu halten ist, und braucht daran nicht so verbissen festzuhalten. Er braucht keinen Krieg gegen den Tod zu führen, nicht nur, weil dieser aussichtslos, sondern weil er schon längst gewonnen ist.

Artikel vom 30.07.2005