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Während sein älterer Bruder Soldat wurde, blieb er auf dem Hof und bekam drei neue Geschwister mit Cockney-Akzent. Das neue Jahr war noch nicht sehr alt, als ich zu dem Schluss kam, dass mein Großvater in eins davon verliebt gewesen war - nicht, dass er etwas unternommen hätte, schüchtern wie er war. Aber ich fand zwischen den Blättern eines Wörterbuchs die Bleistiftzeichnung eines lachenden Mädchens in einem Regenmantel, nahm sie heraus, marschierte damit durchs Haus und wollte wissen, wer sie gemacht hatte und wen sie darstellte. Die Stimme meines Großvaters wurde wehmütig, als er über sie sprach, so redete er sonst nur von den Toten. Und meine Großmutter begann zu schniefen, als ihr Name fiel. Ich fragte ihn nie wieder nach der Wörterbuch-Evakuierten. Ich war erst acht, aber ich spürte, dass ihm das Thema nahe ging. Nicht beschrittene Pfade vielleicht. Liebe, und was hätte sein können.
Henrys Frau, meine Urgroßmutter, war den Großteil ihres Lebens krank. Sie sah wie ein Gespenst aus auf dem Foto. Henry hielt sie um die Taille, und es war das einzige Foto auf der Treppenwand, in dem etwas von Liebe zu spüren war. Wie sie es schaffte, Kinder zu bekommen, werde ich nie begreifen, denn sie war zart wie ein Püppchen, aber sie schaffte es. Sie hatten zwei Jungen, von denen einer inzwischen gestorben war.
»Gangrän«, wurde mir still mitgeteilt. »Eine schlimme Art zu sterben, Evie.«
Duncan Jones war einundzwanzig gewesen und ein vergnügter Junge. Er hatte im Kirchenchor gesungen und war mit einem Mädchen aus Llanwrda verlobt. Ich stelle mir seinen Tod sehr einsam vor - in einem stillen Krankenzimmer mit gelblichen Wänden, Fliegen am Fenster und einem müden Ventilator an der Zimmerdecke. Er musste gewusst haben, dass er sterben würde. Der Gestank seiner Wunde und die trüben Blicke, mit denen er angesehen wurde, müssen es ihm gesagt haben. War er einsam? War er ruhig? Hatte er Angst? Richtete er den Blick zur Decke und sehnte sich nach Pencarreg, seinem Mädchen, der Aussicht vom Berg? Wer weiß, wie wir uns verhalten, wenn unser eigener Tod uns ins Gesicht blickt. Er wurde wie ein Paket zur Beerdigung nach Hause geschickt, und sein Name ist in das Kriegerdenkmal eingemeißelt. Mein Großvater legte jeden November Mohnblumen dorthin. Da ich nie einen Bruder hatte, bedeutete mir seine Trauer wenig.

Ein paar Wochen später tauchte noch ein Bild auf. Es ist ein gutes Bild. Es hängt immer noch hier an der Wand über der Treppe. Meine Mutter, nicht älter als achtzehn, also noch nicht verliebt, aber trotzdem sieht sie blühend aus. Sie trägt einen Sonnenhut. Es sieht aus, als stünde sie irgendwo in einem Wald, das Licht lässt darauf schließen - es fällt in Streifen hinter ihr ein, staubig, wie durch einen Baldachin von Nadelbäumen. Ihr Haar ist offen. Sie blickt über die Schulter direkt in die Kamera. Am linken Arm trägt sie ein silbernes Bettelarmband, in dem sich die Sonne fängt. Sie hält die Krempe des Hutes mit einer Hand fest, wie um zu verhindern, dass der Wind ihn davonträgt. Sie hat gute, gerade Zähne.
So habe ich sie in Erinnerung, hat meine Großmutter einmal zu mir gesagt. Bevor das Unglück anfing, meinte sie. Nicht so sehr mit einem Sonnenhut auf dem Kopf als vielmehr so, wie sie war, bevor mein Vater, Hände in den Hosentaschen, mit einem lässigen Grinsen an der Telefonzelle vorbei nach Cae Tresaint hineingeschlendert kam. Vor deiner Empfängnis, so hätte ich das deuten können - und ein- oder zweimal in meinen Teenagerjahren trug ich diesen Gedanken wie ein Totenhemd. Aber da nahm ich mich wohl selbst zu wichtig. Es war nicht fair, ihre Worte so zu verdrehen, denn so hatte sie es nicht gemeint. Sie liebte mich, das weiß ich. Trotz all meiner Fehler mochte sie mich so, wie ich war. Sie meinte nur, dass meine Mutter sich von dem Tag an veränderte, an dem sie sich verliebte - aber tun wir das nicht alle? Wir sammeln und hüten Geheimnisse und bekommen einen versonnenen Blick. Wir träumen in den Tag hinein und entwickeln eine heimliche Gerissenheit, und von dem Augenblick an, als mein Vater hier auftauchte, musste meine Großmutter zusehen, wie meine Mutter ihr langsam entglitt. Früher oder später wäre das auf jeden Fall geschehen. Aber auf diesem Foto ist meine Mutter noch ein Mädchen, das sie mit niemandem teilen musste. Eine Tochter und eine Freundin; sonst noch nichts.

Um Mitternacht, als das alte Jahr zu Ende ging, wollten meine Großeltern mich bei sich im Wohnzimmer haben, um sich gemeinsam mit mir Big Ben im Radio anzuhören. Aber ich zog es vor, auf der Treppe hocken zu bleiben. Mir fielen schon fast die Augen zu, und ich war voller Geschichten über durchlöcherte Organe und afrikanische Dschungel. »Ich sehe keinem von ihnen ähnlich«, sagte ich.
Mein Großvater lächelte. »Trotzdem deine Familie, Miss Jones«, antwortete er.
Zum ersten Mal war ich Teil von etwas Größerem. Auf einmal glaubte ich nicht mehr an die Sterne - ich brauchte nicht mehr daran zu glauben. Ich kam aus Wales, nicht vom nächtlichen Himmel. Ich stammte von Menschen mit schmutzigen Fingernägeln ab, in deren Mund sich ganz fremde Wörter zur Sprache formten. Das war ein eigenartiger und mächtiger Gedanke. Ich kam mir vor wie eine Perle auf einer Kette, ein Blatt an einem Baum. Ich hatte das Gefühl, als würden riesige unsichtbare Hände nach mir greifen, um mich in einen geheimen Raum zu bringen, wo andere waren, die mich kannten, wo meine Mutter war. Das gleiche Blut; die gleichen Knochen. Hatten sie immer auf mich gewartet? Vorfahren - ich sagte das Wort vor mich hin, und es gefiel mir.
Nach einer Weile kam meine Großmutter zu mir heraus. Sie schickte mich mit einem Klaps ins Bett und nannte mich ihr Geburtstagskind.
Bevor sie das Licht ausmachte, fragte ich: »Wie war mein Vater? Gibt es von ihm auch ein Foto?«
Sie erstarrte.
Ihre Augen brannten.
»Wir sprechen nicht von ihm in diesem Haus. Niemals. Hast du verstanden? Ich will seinen Namen nie von dir hören. Und ich will auch nicht, dass du mit irgendjemandem über ihn sprichst - mit keinem Menschen! Ist das klar? Hast du gehört?« Sie beugte sich zu mir herunter, und ich spürte ihren Atem ganz nahe. Hast du gehört?
Ich ging davon aus, dass dies die zehnte Regel war.
Der Regen wurde stärker, klatschte gegen die Scheiben, und das neue Jahr fing böig an.

Die Tätowierung
Männer. Nur sehr wenige kamen in unser Haus in Birmingham. Die Männer von der Müllabfuhr und der Briefträger zählten nicht. Mr. Willis verließ selten das Haus, schon bevor er an Krebs erkrankte, und wenn, dann höchstens, um vielleicht mal bei einem Windhundrennen im Hall Green Stadion ein paar Pfund zu setzen oder sich in der »Wharf Tavern« ein Bier zu genehmigen, nicht, um uns zu besuchen. Der alte Mr. Soames sammelte im November für die Kriegsveteranen, in der übrigen Zeit des Jahres ignorierte er uns. Es gab einen Kaugummi kauenden Zeitungsjungen, und ab und zu kam ein Vertreter vorbei - ich weiß noch, wie ich mich einmal aus dem Fenster ihres Schlafzimmers gebeugt und einem auf den Kopf gespuckt habe, der nicht von der Türschwelle weichen wollte. Aber das warÕs auch schon. Es kamen keine Männer. Meine Mutter interessierte sich für niemand Neues.
Ist das eine Erklärung für meine Faszination oder meine Blindheit? Für die Tatsache, dass es mir völlig entging, dass noch ein Mann auf unserem Hof lebte? Es waren nicht nur wir drei. Aber einige Wochen bemerkte ich es einfach nicht. Ich erwartete sonst niemanden, obwohl es deutliche Anzeichen dafür gab, dass da noch jemand war.
Wie seltsam und wie falsch, sich diesen Ort ohne Daniel vorzustellen. In gewisser Weise ist es, als gehöre er mehr ihm als mir, obwohl er kein Jones-Blut in sich hat. Sonst hätte er das schwarze Haar und das eigensinnige Kinn der Familie. Aber sein Haar ist von einem hellen Braun, das im Sommer blonder wird. Ich habe schnell gelernt, ihn an diesem Haar aus einer Menschenmenge herauszufinden. Wenn es regnet, lockt es sich, und wenn es regnet, geht er langsam. Ist doch nur Wasser, sagt er. Das ist so typisch für ihn.
Auch die Eulen habe ich nie bemerkt, bevor mein Großvater mich auf ihre gespenstischen Rufe aufmerksam machte - Schh! Hörst du das? -, und dann hörte ich sie jede Nacht, so wie die Hinweise auf Daniel überall auftauchten, sobald ich wusste, dass er da war. Ich lernte seine Fußabdrücke kennen; ich lernte den Geruch des billigen Tabaks für seine selbst gedrehten Zigaretten kennen, und sogar jetzt, wenn jemand anderer ihn raucht, schnuppere ich, drehe mich um und erwarte, Daniel zu sehen.

Der September ist sehr heiß in diesem Jahr. Nicht der heißeste seit Menschengedenken, aber sicher nicht weit davon entfernt. Seit mehr als fünf Wochen hat es nicht geregnet, was selten ist. Der Brych führt nur noch wenig Wasser, die Erde ist so zersprungen wie die Haut auf meinen Fersen, und die Kühe schlagen mit den Schwänzen nach Fliegen. Nicht gerade das beste Wetter, um schwanger zu sein. Ich wünschte, ich hätte das besser planen können, aber es war ja überhaupt nicht geplant. Es ist einfach passiert, wie man so sagt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.08.2005