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Was soll daran logisch sein, möchte ich wissen? Und das übrige Haus schaut nach Norden. So kriegen wir den ganzen Wind und Regen ab, den Gott uns zu schicken beliebt, aber nie viel Sonne.«
Wenn sie verstimmt war, schniefte sie. Als ich von meinem ersten Semester in Swansea mit einem Piercing am oberen Rand der Ohrmuschel heimkam, schniefte sie so sehr, dass sie Nasenbluten bekam. Vielleicht hatte ich es mir deshalb machen lassen - wir stritten in dieser Zeit ständig miteinander. Erst als ich für immer nach Hause zurückkam, unbeeindruckt von der Universität und voller Sehnsucht nach Grün, kehrte wieder so etwas wie Ruhe ein. Zum Glück, denn so wurden wir rechtzeitig wieder Freundinnen, bevor sie im Jahr darauf an einem plötzlichen Herzanfall auf dem Llanybydder Pferdemarkt starb. Mein Ohr begann zu eitern, und ich habe noch jetzt eine Narbe. »Ein Wunder, dass wir hier nicht alle ertrinken«, murrte sie.
Sie hatte wohl Grund genug, sich zu beklagen. Das Haus war nie sehr wetterfest. Zuerst bemerkte ich nur, wie kalt es hier sein konnte, und ich begriff, warum es ein ganzes Regal voller Wärmflaschen im Wäschetrockenschrank gab. Aber wenn die heftigen Aprilstürme kamen, war es anders. Die Diele wurde mehr als einmal von dunklem Wasser aus dem Hof überflutet. Unter der Hintertür gab es geheimnisvolle Spalten und Ritzen, und kein Zimmermann, keine Sandsäcke und kein Entwässerungssystem der Welt konnten dem beikommen. Wie schwarze Magie sickerte das Wasser immer wieder herein. Wenn für die Nacht Regen vorhergesagt war, fluchte meine Großmutter, holte eine wasserdichte Plane und die alten Picknickdecken hervor und zwängte sie für alle Fälle unter die Türschwelle.
Jeder Raum hatte einen eigenen Zugluftstopper, nicht nur gegen den Wind, sondern auch, um den Spinnen den Weg zu versperren. In der Küche war es eine mit Zeitungspapier ausgestopfte Wollsocke. Im Wohnzimmer eine lange grüne Samtraupe mit leuchtend blauer Nase, die ihre Augen bewegte, wenn ich sie schüttelte.
»Könnte das Haus davongeweht werden?«, fragte ich einmal.
»Ich würde nicht dagegen wetten«, antwortete sie.
Und auch mit der Heizung stimmte es nicht ganz. Die Heizkörper schalteten sich ein und aus, wie es ihnen passte. Eine Weile, nicht lange nach meiner Grippe, fragte ich mich, ob vielleicht irgendein Wesen im Boiler hauste, und machte vorsichtshalber einen Bogen darum herum, um nicht von einer plötzlich herausschnellenden Klaue oder einem Fangarm geschnappt zu werden. Ich war in der Küche gewesen, die Hand in der Keksdose, und plötzlich gab der Boiler ein so tiefes, gurgelndes Geräusch von sich, dass ich zu kauen aufhörte und starrte.
»Wir haben schon alle möglichen Leute aus Lampeter hier gehabt«, sagte mein Großvater mit einem Kopfschütteln und wischte mit gerunzelter Stirn den Staub vom Geländer, »die Probleme sind einfach nicht wegzukriegen.«
Ich überlegte. »Könnte es ein Geist sein?«
Meine Großmutter brummelte aus dem Wohnzimmer herüber, dass es wahrscheinlich Hywel selber war, zu stolz auf diese Bruchbude von Haus, die er da gebaut hatte, um sich vom Tod hier wegholen zu lassen. Es machte ihr Vergnügen, über die Familie meines Großvaters zu schimpfen. Sie hatte es auch beim Weihnachtsessen getan, als der Wind wie eine Schlammmure gegen die Hauswand schlug. Aber es schien ihm nie etwas auszumachen. Ich fragte mich, ob sich das so ergab in einer Ehe - dass man über die schlechten Dinge hinwegsieht und nur die guten wahrnimmt. So wie ich nie die Vogelkacke oder den Schmutz auf Fensterscheiben bemerkte, wenn dahinter Schnee fiel.
Hywel John Jones hatte also ein schiefes, undichtes Haus am Rand eines nach Norden blickenden Berges gebaut, aber er hatte auch acht Kinder gemacht. An der Treppenwand hing ein primitives, verwaschenes Foto von ihnen - eine Art Experiment, eines der ersten Fotos in Wales. Die Frauen hatten gespitzte Münder und über den Schürzen gefaltete Hände, die Männer standen lässig um sie herum, die Arme auf Heubündel gestützt. Jeder und jede auf dem Foto hatte eine Geschichte. Hywel junior, erfuhr ich, stritt sich mit seinem Vater, verließ den Hof, wurde Missionar in Westafrika und kehrte nie wieder nach Hause zurück - ich musste mir erklären lassen, was ein Missionar ist. Carys, die blonde Tochter, starb an einem Husten, als sie acht Jahre alt war.
»Ich werd morgen acht.«
»Ich weiß«, antwortete er.
Die jüngste Tochter heiratete einen Lord und wurde eine Lady, die Diamanten trug, Fasan aß und in einer Kutsche spazieren fuhr, so jedenfalls wurde es mir geschildert.
Meine Lieblingsgeschichte aber war die von Wilfred. Wilfred Thomas Jones. Sie war fast zu gut, um wahr zu sein. Ich wurde ganz kribblig, als ich sie hörte, umklammerte meine Milch und hielt den Atem an, als könnte sie sich in nichts auflösen, sobald ich wieder Atem schöpfte.
»Was hat er getan?«
»Er ist nach Amerika gegangen«, flüsterte er, »zu Beginn des Jahrhunderts, um dort reich und berühmt zu werden.«
»Als Filmstar?«
»Land! Er wollte Land kaufen! Es gab dort genug davon, weißt du - riesige, saftige Weiden, so weit das Auge reichte! Und weißt du, was er vorhatte?«
»Nein É«
»Er wollte eine eigene Farm gründen! Drüben in Amerika!«
»Und hat er? Hat er Kühe gehabt?«
»Nein, cariad, hat er nicht. Weißt du, was er getan hat?«
Mit Augen groß wie Untertassen schüttelte ich den Kopf.
Er erzählte, dass Wilfred in Brooklyn eine Bank zu überfallen versuchte und von einem wütenden Kunden erschossen wurde. Eine bessere Geschichte konnte es kaum geben. Und mein Großvater erzählte mir alles, bis in jede Einzelheit, obwohl es eine Geschichte über Verbrechen und gewaltsamen Tod war, und ich mochte ihn sehr dafür. Von Ehrfurcht erfüllt, hockte ich auf der Treppe. Wilfred war, wie ich erfuhr, ein tief verschuldeter Spieler, der Whisky soff, ein freches Maul hatte, mit dem er in den Bars die Blicke auf sich lenkte, und der Geld, das er nicht besaß, für schicke Westen und Taschenuhren ausgab. Verschwender war das Wort dafür, aber meine Großmutter meinte, sie hätte ein weit besseres Wort für so einen. Für mich klang die Geschichte einfach toll. Der Schuss ging direkt durchs Herz, sagte mein Großvater, und ich stellte mir ein schleimiges rotes Herz mit einem Loch in der Mitte vor, durch das man durchschauen konnte. Ist er langsam gestorben, fragte ich mich. Und was haben sie hinterher mit ihm gemacht?
Er hatte auch viele Liebschaften. Das überraschte mich nicht. Ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass Männer nie bleiben. Ich war mit der Ansicht erzogen worden, dass einem Männer durch die Finger laufen wie Hühnerfutter und sich so wenig fangen lassen wie die baumwollartigen Pappelsamen, die jeden Juni und Anfang Juli die Straße unter einer weißen Wolkendecke begraben.
Ich stellte fest, dass ich Wilfred am meisten mochte. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu sehen, aber da war er, ein lachender junger Mann mit Sommersprossen und angeschlagenen Schneidezähnen, Daumen unter die Hosenträger gehakt. Hinter Wilfred saß ein weißer Hund, der sich am Ohr kratzte; hinter dem Hund war der Hintereingang zu unserem Haus, und es gefiel mir, dass er sich in fast hundert Jahren nicht verändert hatte. Damals musste es hoch hergegangen sein in dem Haus, dachte ich - acht Kinder, zwei Erwachsene und dieser weiße Hund.
Ein anderes dieser Kinder war Samuel Jones, mein Ururgroßvater. Von seinem Foto war ich enttäuscht. Er sah aus wie alle Männer auf alten Fotografien - mit einem Bart, dünnen Lippen und streng.
»Der sieht böse aus«, meckerte ich. »Und langweilig.«
»Tja, er hat es auch nicht leicht gehabt. Siehst du unsere Haustür?« Ich hängte mich übers Geländer, um sie am Ende der Diele zu erspähen. »Die haben wir ihm zu verdanken.«
Sie war ein gewaltiges, knorriges, lackiertes Ding mit einer Unmenge von Riegeln und Ketten und zu schwer für ihre Angeln, aber mein Großvater erklärte mir, dass Samuel Jones keine Risiken einging. Seine Frau war mit sechzehn im Kindbett gestorben. Danach, so schien es, tat er alles, um nie wieder etwas zu verlieren.
Ihr einziges Kind war Henry John Jones. Er sah aus wie Knecht Ruprecht.
»Mein Vater«, sagte Großvater. Er sah ihm überhaupt nicht ähnlich. »Er machte Pencarregs Lammfleisch berühmt.«
Mir war nicht ganz klar, wie er das gemacht hatte, aber mein Großvater schien sehr stolz darauf zu sein. Henry nahm während des Krieges auch Evakuierte aus London ins Haus, und das Dorf bewunderte ihn dafür. Mein Großvater lächelte ein stilles, versonnenes Lächeln und sagte, dass es recht lebhaft und wild zugegangen sei hier im Krieg. »Drei Kinder plus ich, die ums Haus und über die Berge tobten, wie Indianer brüllten und ständig etwas ausfraßen.«
»Was denn?« Vielleicht hatte mein Großvater auch eine Bank überfallen.
»Das geht dich nichts an«, grinste er und tippte mir auf die Nase.
Er war siebzehn gewesen, als der Krieg ausbrach. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.08.2005