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Mein Bett kippte, als er sich darauf setzte; ein Glasstab wurde mir unter die Zunge geschoben.
»Achtunddreißig zwei. Aspirin, Wasser und Ruhe«, verkündete er. »Sie ist über das Ärgste hinweg, Lou.«
Das war Dr. Matthews. Ein Freund der Familie, wie ich später feststellte. Er wohnte in Llanddewi Brefi gegenüber der Kirche, in einem Haus, wo es angeblich spukte. Er hatte nie geheiratet. Im Lauf der Zeit schrieb ich das der Tatsache zu, dass er rülpste, wenn auch mit geschlossenem Mund, und dass ihm Haare aus den Ohren wuchsen - ein Kind bemerkt so etwas. Aber meine Großeltern mochten ihn. Offenbar war er der Erste gewesen, der vor achteinhalb Jahren, bevor meine Mutter nach Birmingham aufbrach, meinen Herzschlag gehört hatte, und meinen Großvater kannte er schon sein Leben lang. Ein hellbraunes Foto auf dem Bücherregal in der Diele bestätigte das. Zwei walisische Jungen mit ihren Fahrrädern, einer mager, einer dick, die auf einer dunstigen Straße in die Kamera blinzeln. Sie waren oft den ganzen Weg nach Llandovery geradelt, nur um sich die Mädchen anzugucken, die mit ihren gepuderten Nasen und aufgemalten Strumpfnähten eine Klasse über den Mädchen des Dorfes standen. Jim Matthews konnte den Mädchen nachpfeifen wie keiner sonst in Wales, erzählte man mir - zumindest früher einmal. Das war vor dem Krieg gewesen - vor dem Krieg und vor dem Tod meines Großonkels Duncan, dessen Bein von einer Schrapnellwunde so schwarz und faulig wurde, dass er daran starb.
Am Tag vor Silvester kam er wieder. Ich hatte kein Fieber mehr, saß im Bett und las einen Comic. Dr. Matthews schob sich schwerfällig durch die Tür. Er brachte kalte Luft und den Geruch nach Leder mit. Einen Erwachsenengeruch.
»Na, das sieht schon besser aus. Wie geht es unserer Patientin heute?«
»Gut.«
Er legte mir die Hand auf die Stirn und nickte. »Es ist dir gar nicht so gut gegangen, weißt du.«
»Ich weiß. Influenza.«
»Richtig. Geht halt um in dieser Jahreszeit. Machst du mal den Mund auf?«
Ich riss ihn weit auf und streckte die Zunge heraus.
»Prima. Und jetzt lass mich mal hier an den Hals greifen.«
»Was, denkst du, bedeutet K?«, fragte ich. »Es steht auf meinem Fensterbrett.«
War da ein Zögern? »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Irgendwer hat jetzt bald mal Geburtstag, nicht?«
»Ich. Ich werde acht. Bald sind es zwei Ziffern.«
»Na dann«, er stemmte sich vom Bett hoch, »schönen Tag noch.« Es klang, als glaube er nicht ganz daran, und er lächelte seltsam, als er ging, so wie Leute nur lächeln, wenn sie etwas Trauriges gehört haben, wenn sie Mitleid haben. Wenn sie wissen, dass man nichts tun konnte.

Meine Erholung war eine einsame Zeit. Daran war das Wetter schuld - oder genauer gesagt, meine Großmutter.
»Du bleibst drin«, sagte sie.
»Aber es geht mir besser! Du hast es selbst gesagt! Ich möchte raus.«
»Du hast seit zwei Tagen kaum was gegessen«, antwortete meine Großmutter, ohne von ihrer Western Mail aufzublicken. »Du bist geschwächt.«
»Bin ich nicht!«
»Du bist geschwächt, Evangeline, und du bleibst drin.«
»Aber É«
»Genug jetzt. Zieh deine Pantoffeln an, oder du holst dir den Tod.«
Mit ihr zu streiten war zwecklos, aber das hinderte mich nicht daran, düstere Sachen über sie zu denken. Ich machte ein finsteres Gesicht und schlug mit den Türen. Ich zog Bücher aus den Regalen, nur um sie zu ärgern. Wenn sie mich im Vorübergehen streifte, wurde ich steif wie ein Zaunpfosten, und ich blickte ihr nie in die Augen. Einmal, als sie kam, um mir einen Gutenachtkuss zu geben, wehrte ich mich und stieß sie weg. Ich schäme mich dessen immer noch. Ich sehe sie noch am Fußende meines Bettes stehen, mit hängendem Kinn und grau wie Großstadteis.
So trottete ich also in den letzten Tagen des Jahres durch mein zugiges Gefängnis, hockte, den Pullover über die Knie gezogen, vor den Fenstern herum und starrte mit leerem Blick auf die Felder und Wiesen hinaus. Ich lutschte die Lakritzen, die Mrs. Maddox für mich dagelassen hatte, zupfte den Lack von den Türrahmen, guckte in Schubladen, schlug Bücher auf und fuhr mit Stöcken unter die Möbel, um zu sehen, was wohl darunter war. Auf diese Weise kamen einzelne Socken und Bleistifte, Münzen, Lesezeichen, Haarbänder und eine tote Spinne zu Tage. Im Gästezimmer stieß ich auf einen verbeulten Tennisschläger, einen verstaubten orangefarbenen Teddybären und einen Windschutz für den Strand, und dann entdeckte ich oben auf dem Schrank etwas, was ich kannte. Eine Schuhschachtel. Mit bunten Gummibändern drum herum. Ich stieg auf einen Stuhl und angelte mit einem Kleiderhaken danach, aber es gelang mir nicht, sie herunterzuholen.
In der Nacht horchte ich auf den Regen, und ein, zwei Mal glaubte ich, blondes Haar in der unendlichen walisischen Dunkelheit aufblitzen zu sehen.

Sollte meine Krankheit irgendeinen Zweck gehabt haben, dann diesen: mein Großvater und ich wurden Freunde. Im Gegensatz zu seiner Frau glaubte er daran, dass frische Luft mir gut tun würde. Sie zankten sich darüber, wenn ich im Bett lag - und wie bei allem, schien meine Großmutter auch bei dieser Auseinandersetzung zu gewinnen. Aber wenn sie im Bad war oder am Telefon, steckte mein Großvater den Kopf durch die Küchentür, prüfte, ob die Luft rein war, und stieß einen leisen Pfiff aus. Ich kannte diesen Ruf. Mit hinter mir herfliegendem Anorak rannte ich in den Regen hinaus. Wir drehten ein paar Runden im Hof. Wir traten in Pfützen und zogen an nassen Zweigen. Das alles musste natürlich leise geschehen, und wir passten sehr auf, dass mein Haar nicht nass und mein Gesicht nicht schmutzig wurde. Aber irgendwie machte das den Spaß noch größer. Diese mit fliegender Hast gestohlenen Augenblicke grenzten an Zauberei. Dass ich dabei ins Freie kam, war eigentlich gar nicht mehr so wichtig - manchmal war ich nicht länger als ein paar Minuten draußen. Zum Ereignis wurde es, weil wir gemeinsam etwas anstellten, mein Großvater und ich. Wir waren Partner. Wir hatten unser Geheimnis, etwas, um uns über die Teekanne hinweg zuzuzwinkern.

Gibt es ein Foto von uns beiden, wie wir das taten, uns in den Regen hinausschlichen? Nein - denn wer hätte es machen sollen? Und trotzdem sehe ich uns vor mir. Ich sehe uns ganz deutlich, wenn ich die Augen schließe - mich in meinem blauen Anorak, mit erhobenen Armen, mitten im Laufen, einen Fuß in der Luft. Mein Großvater lächelt. Seine braune Kordhose steckt in den Stiefeln. Von Arthritis noch keine Spur.
Es war nicht das erste Mal, dass meine Großeltern einander hinters Licht führten, und es sollte auch nicht das letzte Mal sein. Aber ich erinnere mich genau daran. Das waren meine ersten glücklichen Augenblicke in Pencarreg. Ich bezweifle, dass es meinem Großvater je bewusst war, wie viel mir diese Augenblicke bedeuteten. Für einen Erwachsenen sind winzige Betrügereien dieser Art schließlich unerheblich im Vergleich zu den anderen, die mit Liebe zu tun haben.

Er wurde auf den Namen David getauft, David Jones, und hatte in Pencarreg das Licht der Welt erblickt. Vor achtundfünfzig Jahren hatte seine Mutter ihn im hinteren Schlafzimmer mit den braunen Paisley-Vorhängen, dessen Fenster auf die Kuhweide und unsere Straße hinausgeht, aus sich herausgepresst. Mein Großvater gehörte der dritten Generation von JonesÕ an, die innerhalb dieser vier grauen Wände auf die Welt gekommen waren, und so wie das Haus beim Gedanken an die bärtigen Männer mit Hunden zu ihren Füßen seufzte, so war auch der Friedhof von St. TysulÕs mit meinen Ahnen voll gestopft. Sie drängeln sich im südlichen Winkel neben dem kaputten Hintereingang und der Pappel. Ich konnte Stunden damit zubringen, zwischen ihren Grabsteinen herumzuhüpfen, die Vogelkacke herunterzukratzen und mit dem Finger ihre Namen nachzuziehen. Manche Inschriften waren in einer anderen Sprache. Was In liebender Erinnerung auf Walisisch heißt, lernte ich früher als alles andere.
Zu Silvester hockte ich in Decken gewickelt auf der Treppe und hörte zu. Mein Großvater hatte seine Brille auf - Halbmonde, die auf seiner Nasenspitze saßen und eine wächserne Einkerbung dort zurückließen. Meine Großmutter döste im Wohnzimmer vor einer Tasse kaltem Tee.
»Der Mann, der das Haus gebaut hat«, sagte er, »war Hywel John Jones. Dein Urururgroßvater.«
»Haiwul?«
»How-ell.« Ich stellte mir einen Hut wie einen runden Pudding und eine zu enge Weste vor.
Das Haus war vor etwas weniger als einem Jahrhundert erbaut worden, als die Goldminen in Pumsaint noch in Betrieb waren, kein Mensch an ein Kriegerdenkmal dachte und es so etwas wie Autos noch nicht gab - man bewegte sich mit Pferd und Wagen fort, was ich für gar keine so üble Lebensweise halte. Hywel hatte das Haus aus Schiefer und Stein gebaut und die Linden selbst gepflanzt. Außerdem hatte er sich den Südhang des Tals ausgesucht, was, wie meine Großmutter oft betonte, sein größter Fehler gewesen war.
»Die Eingangstür ist auf der Hangseite«, verkündete sie. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.08.2005