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Kleiner Kader soll's richten

Heftige Nerius-Kritik am DLV und dessen Präsidenten Porkop

Helsinki (WB/dpa). Déjà-vu zum Jubiläum: 22 Jahre nach der WM-Premiere steht das Olympiastadion von Helsinki erneut im Zentrum der Leichtathletik-Welt.

Eine erstmals zweigeteilte Eröffnungsfeier wird die 10. WM am 6. August mit Pop und Rock einleiten - als farbenprächtige und klanggewaltige Zeitreise durch die Titelkampf-Geschichte.
Fast 2000 Athleten werden bis zum 14. August in den 47 Entscheidungen (24 Männer/23 Frauen) um die Medaillen kämpfen. Die 3000 Meter Hindernis der Frauen erleben im Olympiastadion von 1952 ihre WM-Premiere. Die Athleten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) wollen nach den goldlosen Titelkämpfen 2003 in Paris endlich wieder einen der Ihren als Weltmeister feiern.
Während sich die Supermächte Russland und USA wieder ein Duell um den Sieg in der Nationenwertung liefern werden, geht es für den DLV um Wiedergutmachung für Paris (1 Silber/3 Bronze) und das Olympia-Debakel 2004 in Athen, als Kugelstoßerin Nadine Kleinert und Speerwerferin Steffi Nerius (jeweils Silber) die einzigen Medaillen erkämpften. Zusammen mit Sprinthoffnung Tobias Unger gehören die beiden Routiniers erneut zu den Trümpfen in der deutschen Mannschaft.
Nach der Absage von Marathonläuferin Luminita Zaituc (Braunschweig) und der Streichung einer Frauen-Sprintstaffel und des Kugelstoßers Detlef Bock (Wolfsburg) fährt der DLV mit 54 Athleten (30 Männer/24 Frauen) nach Helsinki; 63 standen vor zwei Jahren im Paris-Team. Das angesichts wenig berauschender Vorleistungen relativ große WM-Aufgebot berge die Gefahr des »Missverständnisses«, gab der Leitende Bundestrainer Jürgen Mallow zu. Es biete aber »auch die Chance, dass wir ein gutes Gesamtergebnis erzielen«. Kein einziger DLV-Athlet stand zwei Wochen vor WM-Beginn an der Spitze einer Jahresweltbestenliste.
Steffi Nerius hat drei Tage vor der WM zu einem Rundumschlag gegen den DLV ausgeholt. Sie kritisierte vor allem den Präsidenten Clemens Prokop, prangerte die Vorgehensweise bei der Nominierung an und zeichnete ein düsteres Bild. »Bei Prokop habe ich überhaupt nicht das Gefühl, dass er sich wirklich für die Leichtathletik interessiert. Manchmal glaube ich, Prokop nutzt sein Amt nur zur Profilierung«, sagte Nerius.
Vor der WM 2003 hatte Stabhochspringer Tim Lobinger mit heftiger Kritik am Verband und an den eigenen Kollegen (»Ein Primadonnenclub aus Hosenscheißern«) geübt und damit vor dem ersten Startschuss vor Unruhe gesorgt.
»Im DLV-Präsidium sitzen sicher nette Männer, aber ich habe bislang nicht das Gefühl, dass sie auch zündende Ideen haben«, meinte die 33-Jährige weiter. »Man bräuchte frisches Blut, Leute aus der Szene, aber mit Elan.« Gerade jetzt müssten die Probleme dringend mit Profil, Charisma und Sachverstand angepackt werden. »Es ist eben keine Kommunikation da. Was habe ich den mit dem Verband zu tun? Herr Prokop hat nach meinem zweiten Platz in Athen nicht einmal meinem Trainer gratuliert«, beklagte sich Nerius über den Leiter des Amtsgerichts im bayrischen Kelheim.
In Paris habe dem Verbandschef sogar die Geherin Melanie Seeger vorgestellt werden müssen, die gerade für einen deutschen Rekord gesorgt hatte. »Ausfälle dieser Art kommentiere ich nicht«, sagte Prokop in Helsinki, kündigte jedoch an: »Wir werden aber das Gespräch mit der Athletin suchen.«
Nerius befürchtet auch in Helsinki eine magere Medaillenausbeute. »Es ist möglich, dass wir nur eine oder gar keine holen«, sagte die Vize-Europameisterin und »Leichtathletin des Jahres 2004«. Der DLV habe nur acht Topathleten, die Weltklasseleistungen bringen. Das Problem sei, dass am Tag X oft nicht die Leistungen gezeigt würden, die möglich sind. Die Zeiten, in denen die deutschen Leichtathleten zehn Medaillen geholt haben, »kommen kaum wieder«.
Die Speerwerferin bemängelte auch, dass der Verband bei der Nominierung nicht seine harte Linie durchgezogen habe: »Nun starten Athleten ohne Normerfüllung. Das ist inkonsequent, macht unglaubwürdig«, sagte Nerius. Prokop betonte jedoch: »Es ist auch entscheidend, dass man den Geist der Regeln beachtet und den Anspruch, der dahinter steht, erfüllt.«
Während einige bewährte Oldies in Helsinki fehlen, feiert Heike Drechsler nach 22 Jahren ein ganz spezielles Comeback. 1983 gewann das 18 Jahre junge Fräulein Daute für die DDR im Weitsprung seinen ersten großen Titel, diesmal ist sie als Reporterin im Einsatz.

Artikel vom 04.08.2005