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Heimtückische, versteckte Sümpfe - hungrige braune Sümpfe, stark genug, um einen erwachsenen Mann hinunterzuziehen. Auch von Kreuzottern habe man schon gehört, und allein das Wetter könnte mich umbringen. Es seien schon Menschen hier durch die Unbilden der Witterung gestorben, sagte er. Das war ein neues Wort für mich - Unbilden -, ein Wort voller gewisperter Geheimnisse. Ich probierte es zusammen mit dem Kuchen in meinem Mund aus.
»Ich mein es ernst«, sagte er. »Es ist kein Verlass hier aufs Wetter - auch im Sommer nicht.«
Ein guter Rat - ich befolgte ihn. Ich brauchte nicht lange, um zu lernen, dass der Regen in Wales hinterhältig ist. Er kriecht hinter dir hoch und klopft dir auf die Schulter. »Nimm einen Anorak mit!«, rief meine Großmutter mir immer durchs Küchenfenster nach. »Hier weiß man nie.«
Die zweite Regel betraf alle Maschinen: »Spiel nie in der Nähe von irgendwelchen Maschinen!« Damit waren Traktoren gemeint, Schermaschinen, alles aus Metall. Zur Abschreckung bekam ich Geschichten von fehlenden Fingern zu hören und Schlimmeres. Auch Rohre, Töpfe und Spraydosen waren von Geboten umgeben - all die Chemikalien auf dem wackligen Regal in der alten Pferdebox waren absolut tabu. Und genau deshalb wurden sie später interessant. Das Schloss an der Tür leistete kaum Widerstand. Ich tauchte meine Finger in Schmierfett und probierte antiseptische Sprays aus, bis es mich in der Nase kitzelte; ich fand heraus, dass Jod die Haut fuchsrot färbt. Meine Lunge muss heute ein verknorpeltes, morsches Gebilde sein. Gerry und ich haben einmal in den Schulferien die Sprühfarben für die Markierung der Schafe untersucht, und dabei müssen wir unabsichtlich alle möglichen Krebs erregenden Dämpfe eingeatmet haben. Wenn ich ihn heute am Telefon husten höre, bilde ich mir ein, mehr als das bloße Rasseln in den Bronchien eines Rauchers zu hören. Aber ich versuche, nicht darüber nachzudenken.
Eine weitere Regel bestand darin, die Männer in Ruhe zu lassen, die auf dem Hof arbeiteten - ich war ihnen bisher noch nicht begegnet, aber das sollte sich bald ändern. Und Beeren oder Pilze, die ich nicht kannte, dürfe ich auf keinen Fall essen; am Straßenrand wüchsen Nachtschattengewächse, und mit den ersten Herbstnebeln kämen die Pilze, sagte er.
»Pilze?« Die roten mit den weißen Tupfen, in denen Elfen wohnten, wenn man an solche Geschichten glaubte? Nein - eher die braunen mit den Warzen, die die Studenten aus Lampeter in Plastiksäcken sammelten, um sich Tee daraus zu brauen. Das war nie meine Sache. Mein Hirn hat seine dunklen Räume, und ich halte es für das Beste, es dabei zu belassen.
»Und wasch dir immer die Hände, wenn du ins Haus kommst. Immer.« Und ich nickte mit ernsten Augen.
Auch das Plantschen im Brych war nicht erlaubt, zumindest nicht vor dem Mai - Flüsse konnten Menschenleben fordern, wurde mir gesagt. Und die Schäferhunde waren zum Arbeiten da und nicht, um mit ihnen Fangen zu spielen. Ich dürfe mich nicht zu ihren Zwingern schleichen und den Riegel öffnen. Nicht dass ich die Absicht gehabt hätte - Hunde waren stinkige, feuchte, geifernde Wesen, denen meine Mutter stets aus dem Weg gegangen war, und wenn sie dazu auf die andere Straßenseite musste. »Das mach ich bestimmt nicht«, erklärte ich ihm, und ich meinte es.
»Und hab keine Angst davor, über sie zu reden«, sagte er, »wenn du möchtest.«
An sich keine Regel, aber er betrachtete es offenbar als eine.

Der Abend kam um halb vier. Ich war müde. Auf dem Weg zurück hinunter zum Hof schloss ich die Augen, presste mich an seinen Rücken. Ich sehnte mich nach dem Bett, nach weichen Sachen. Als wir in den Hof kamen, sah ich, dass in meinem Zimmer das Licht brannte. Es leuchtete ins Halbdunkel hinein. »Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte er.
Bei der letzten Regel ging es um Pferde. »Geh nie hinten um ein Pferd herum.«
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Weil die Hinterhand eines Pferdes ein mächtiges Ding ist. Glaub mir, Evie. Du darfst ein Pferd nie erschrecken, nicht von hinten. Ein Mann aus dem Dorf wurde auf diese Weise verletzt.«
»Wie verletzt?«
»Er bekam einen Tritt an den Kopf. Es ist schon viele Jahre her.«
Ich rieb mir die Augen. An den Kopf? »Was ist passiert? Ist er gestorben?«
Mein Großvater schüttelte den Kopf. Ich war erleichtert. »Nein, gestorben ist er nicht. Insofern hat er Glück gehabt. Aber es hat ihm den Schädel zertrümmert. Die ganze linke Seite war kaputt. Musste alle möglichen Operationen über sich ergehen lassen. Und monatelang konnte er nicht gehen.«
»Kann er jetzt gehen?«
»Ja, kann er, aber er ist nicht mehr, was er war, der arme Kerl.«
Sah ein zerschmetterter Schädel wie ein zerbrochenes Ei aus und verspritztes Hirn wie kalter Haferbrei? Sah man den Einschlag des Hufeisens noch? Ich fragte nicht. Aber ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich mir ein grässliches, blaurot verfärbtes Gesicht vorstellte und in dieser Nacht von entstellten Gesichtern träumte. Kinder sind wilde kleine Geschöpfe - das Hässliche zieht sie an, sie können richtig gierig darauf werden und strecken überall ihre Fühler danach aus. Warum ist das so? Was für eine Ironie - wenn wir dann erwachsen sind, verbringen wir unser Leben damit, in der ganzen Verrücktheit etwas zu finden, was das Herz und das Auge erfreut.
»Billy Macklin«, lautete die Antwort, als ich nach seinem Namen fragte.
Die beiden Worte waren also von Anfang an mit Gefahr und Traurigkeit für mich verbunden.

Neun Regeln - es hätte schlimmer sein können. Ich hatte schon mehr gehabt. Aber es war eine seltsame Zahl. Zehn wären natürlich logischer gewesen, und ich glaube, ich wusste daher, dass mit noch einer zu rechnen war. Wie bei einem Satz ohne Punkt wartete ich auf eine dicke dunkle Gewissheit.
Ich hätte wissen müssen, dass es mit einem weiteren Mann zu tun hatte. Lass ihn nicht fort, wenn du ihn gefunden hast, mein Schatz, hatte meine Mutter, nicht lange bevor sie gestorben war, zu mir gesagt. Sie kauerte auf dem Treppenabsatz, die Schuhschachtel an sich gedrückt, und rauchte im Dunkeln. Ich war vom Knarren der Bodenbretter aufgewacht. Im Licht der Straßenlampe sah sie alt aus. Sie war natürlich nicht alt. Erst achtundzwanzig, als ihr Herz im Bad versagte. Lass ihn nicht fort, flüsterte sie. Versprichst du mir das?
Ich war zu jung, um sie ganz zu verstehen, und zu schläfrig - wen fortlassen? Aber ich nickte feierlich, nahm ihre Hand und versprach es ihr eben.

Oktober

Heute habe ich ihn wieder gesehen. Ich sah ihn durchs Schaufenster von Mr. PÕs Laden über den Platz gehen - Jeans, kurzärmeliges weißes Hemd, eine selbst gerollte Zigarette. Mr. P war verärgert. Er murrte vor sich hin, erklärte mir, dass Rothaarige launisch wären und man ihnen nicht trauen dürfe. Denk an Judas, sagte er. Aber ich hörte nicht zu. Ich bezahlte und ging. Ich habe noch nie solche Haare gesehen.
Ich bin ihm gefolgt - war das falsch? Nur bis zum Friedhof. Er saß auf dem Zaun am anderen Ende, die Füße in den Nesseln, mit dem Rücken zu mir. Drei Elstern - bedeutet das nicht Glück? Ich beobachtete ihn von der Tür zur Sakristei her. Er hob den Kopf, als er den Rauch ausblies.
Ein Mann kann schön sein, das weiß ich jetzt. Es ist nicht nur ein Wort für Frauen, nicht nur für romantische, edle, vornehme Dinge reserviert. Ich glaube nicht mehr, dass ein gepflegtes, gefälliges Aussehen Schönheit ist. Schönheit ist nachlässig. Schönheit ist ungekämmtes Haar und eine zerrissene Hosentasche. Schönheit ist etwas Leuchtendes, Fremdes und Wunderbares, und wenn ich ihn malen wollte, würde ich nur warme Farben verwenden - Ocker, Gold, Pflaumenblau, Terrakotta, Scharlachrot, gebranntes Orange.
Ich möchte, dass er mich sieht, wie ich ihn dort sah. Allein, am Ende des Tages, mit der Sonne im Haar. Ich möchte, dass auch sein Herz einen Sprung macht. Ich möchte, dass er jemanden auf dem Platz anhält und fragt: Wer ist das? Kennst du sie? Woher kommt sie?

Ich vermute, dass dies die erste Aufzeichnung meiner Mutter ist. Es sind viele Zettel in der alten Schuhschachtel - auf einigen finden sich kurze Texte, auf anderen nur einzelne Wörter. Ich habe sie alle gelesen, geordnet, und das scheint mir das älteste Stück zu sein. Die Worte einer Zwanzigjährigen, auch wenn die Schrift noch kindlich ist - mit vielen Schlingen und Schnörkeln. Genau so habe ich sie in Erinnerung. So hat sie Geburtstagskarten unterschrieben; in dieser Schrift waren die Bestellungen für den Milchmann abgefasst.
Die Worte stehen auf einem Stück dünnem gelbem Papier, das in der Mitte gefaltet ist.
Ich mag diese Aufzeichnung. Ich mag sie, weil sie wahr ist, sie hat Recht: Wir alle wünschen uns, so von dem gesehen zu werden, den wir lieben - ahnungslos, natürlich, heiter. Wir wollen seine Welt durch einen Blick auf uns verändern, wollen, dass ihm der Atem stockt, wenn er uns sieht. Auch ich war nicht anders, muss ich gestehen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.08.2005