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Ist es nicht eher so, dass die Liebe unser Hirn mit Bildern und Geräuschen überflutet, so dass alles größer, heller, schöner aussieht als je zuvor?
Viola tricolor. Zu kümmerlich, um meine Lieblingsblume zu sein - etwas Robustes ist besser, etwas, das allen Unbilden trotzt. Die Osterglocke wäre eine gute, passende Wahl - Narcissus. Wiesenkerbel ist auch nicht schlecht: manchmal werden die Stiele so dick und hoch, dass ich mich als Kind mit meinem ganzen Gewicht dranhängen musste, um sie zu pflücken. Aber der Geruch verursacht mir Unbehagen. Er führt mich zurück in die Vergangenheit. Als Rosie verschwand, haben Polizisten die Hecken mit Stöcken durchstöbert, in der Hoffnung, dort auf einen Hinweis zu stoßen. Die Luft war voller Blütenstaub, und Gerrys Nase begann zu rinnen.
Aber ich eile voraus. Das war im Juni, als ich acht war, und ich bin noch nicht einmal ganz sieben.

Blaue Augen
Ich hab mich ihm vorgestellt! Obwohl genau genommen er zuerst gesprochen hat. Ich habe seinen Blick gespürt, dann kam er über den Hof und fragte, ob er mich nicht schon irgendwo gesehen hätte. Große blaue Augen - von der Art, in denen man sich verlieren kann. Ich glaube, er weiß das auch, aber es stört mich nicht: Wir haben uns die Hände gegeben. Das hat mir gefallen. Sein Name klingt genau, wie er soll, und sein Akzent ist wunderbar.

Das ist sauber geschrieben. Mit einem richtigen Füllfederhalter. Ich spüre die Konzentration, mit der sie sich jedem einzelnen Buchstaben gewidmet hat, damit er hübsch und ordentlich wird. Aber im letzten Satz sind die Schnörkel wieder da, und die Wörter beginnen sich zu neigen, wie von einem heimlichen Wind angeblasen. So schreibe ich auch - das hat Daniel gesagt. Er hat gesagt, dass meine Buchstaben linkisch sind und zum Umfallen neigen, dass sie eine Stütze brauchen. Wie Stangenbohnen, die man hochbinden muss, hatte ich empört gefragt.
Seine Augen sind grau, nicht blau - aber sie können manchmal dunkler werden und mich überraschen. Dann erinnern sie mich an Nebel und an Federn. Ein Familienmerkmal, sagt er. Ich hoffe, dass er es wie viele andere seiner Eigenheiten weitergeben wird.

Erbgut
Ich weine nicht, eigentlich nicht. Im Augenblick bin ich etwas weicher, aber wie ein Pfirsich mit seinem harten, gerillten Kern habe ich in Birmingham nichts wirklich ganz tief in mich hineingelassen. Weinen war etwas, was mich höchstens neugierig machte. Einmal hat sich ein blondes Mädchen auf dem Klettergerüst im Park die Zähne eingeschlagen - ich erinnere mich deutlich daran. Sie saß auf dem Asphalt und plärrte mit blutendem Zahnfleisch, und ich weiß noch, dass ich trotz meines Alters eine seltsame kindliche Verachtung für sie empfand. Traurig sein konnte ich auch, aber ich weinte nicht - warum also weinte sie? Und daher habe ich ihr auch nicht geholfen. Ich ging nach Hause zum Essen und ließ sie brüllend dort hocken.

Sie hörten mich nachts nicht heimlich ins Kissen schluchzen in Pencarreg. Ich glaube, sie erhofften es sich. Ich glaube, sie horchten manchmal an meiner Tür, hielten den Atem an, aber wenn es so war, sind sie immer wieder enttäuscht davongeschlichen. Ich habe nur in die Dunkelheit gestarrt oder geschlafen in der Nacht. An den Winternachmittagen stand ich zwischen den Kühen, von denen dampfend die Wärme aufstieg, und fragte mich, wo alles hin war. Wo war ihr Silberglöckchen? Wo ihr Muttermal und ihre Stimme, wo waren ihre quietschenden grün-weißen Tennisschuhe? Wie konnten diese Dinge sich einfach in nichts auflösen, die doch so wirklich gewesen waren?
Ich wurde krank.
Eines Morgens erwachte ich und sah das Gesicht meiner Großmutter über mich geneigt. Sie tupfte mir die Stirn mit einem Tuch ab. »Du bist krank«, sagte sie. »Versuch zu schlafen. Du bist so heiß, dass man ein Ei auf dir braten könnte.«
Ich habe nicht viel davon in Erinnerung. Mein Ausschlag wurde schlimmer. Einmal habe ich, glaube ich, das Bett nass gemacht. Meine Großmutter rauschte mit kreidig trüben Getränken aus und ein, die auf dem Nachttisch vor sich hin sprudelten, und ich raunzte und schlug ihre Hände weg. Meine Wimpern wurden klebrig. In meinen helleren Momenten hörte ich den Wind ums Haus peitschen und sorgte mich um die Kühe.
Die Badezimmerfliesen waren so eisig, dass ich eine Gänsehaut bekam. Die Klobrille war zu kalt, um sich draufzusetzen, also hockte ich mich nur drüber. Eines Nachmittags gaben meine Beine nach, und ich krachte neben dem Mülleimer zu Boden. Da lag ich schlotternd auf der Seite und starrte auf alte Wattestäbchen und aus dem Abfluss gezogene Büschel langen schwarzen Haares. Meine Zähne klapperten. Ich murmelte auf eine vor sich hin modernde Zahnbürste ein. Das Innere des Mülleimers war wie eine gänzlich fremde Welt.
Irgendjemand hat mich schließlich gefunden.
Ich wurde vorsichtig aufgehoben und ins Bett getragen. Es war keiner von meinen Großeltern. Ich faselte unzusammenhängendes Zeug, zupfte an meinem Pyjama, und ein ganz neuer Geruch stieg mir in die Nase, nicht nach Schafen oder Kuchen. Ein rauchiger, weicher Geruch; fast vertraut. Mein Bett war kühl, als ich hineingelegt wurde. Hund wurde mir in die Armbeuge gedrückt.
Wer immer sich da über mich neigte, war sanft und freundlich. So elend mir auch war, das spürte ich. Behutsam und leise wurde ich eingewickelt, als wüsste der Mensch, der das tat, genau, was es heißt, eine heiße Haut zu haben, die spannt, und das eigene Herz in den Ohren pochen zu hören.

Influenza. Ein Name, der für ein Mädchen passen würde - ein heißblütiges, glutäugiges Mädchen aus den Tropen, mit Blumen im Haar und schwingenden Hüften. Das Haus knackte und wisperte. Vor meiner Tür fanden geheime Zusammenkünfte statt, ich hörte neue Stimmen. Mit der Zeit horchte ich auf sie. Mein Kopf wurde langsam klarer, Stück um Stück, wie vereiste Winterfenster.
Reverend Bickley erkundigte sich nach mir. Er brachte mir einen Stern aus rosa Glas, den ich mir an die Vorhangschiene hängen konnte - ein kluges Geschenk, denn er machte mein Zimmer heller, leuchtete neben dem Efeu, und ich starrte ihn stundenlang an. Er erinnerte mich an Geleebonbons. Auch der Junge, der immer den Hühnerstall reinigte, fragte nach mir, ebenso Mrs. Maddox, die in dem rosa Häuschen am Beginn unserer Straße wohnte - ich hörte ihren dicken walisischen Akzent von unten: Und ich lass sie ganz herzlich grüßen. Meine Großmutter backte Scones für meine Genesung - mit Schlagsahne aus Cornwall, wie sie betonte - der besten. Sie hielt nichts davon, ein Fieber auszuhungern.
Ein grauhaariger Mann mit kalten Händen und Augenbrauen wie dicke Raupen war mein erster richtiger Besucher.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.08.2005