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Mein Großvater roch nach Kräuterseife und Hundehaaren, und er führte mich in meinen neuen Gummistiefeln durch den Regen. Ich wurde um Schlaglöcher herumdirigiert, auf den Heuboden gehoben, er zeigte mir das Nest einer alten Dohle und die Regentonne. Er winkte mich in Scheunen und tropfende Nebengebäude. Hinter einer Reihe von Nadelbäumen rostete ein Wohnwagen vor sich hin. Hühner scharrten im Boden und beäugten mich. Ich steckte die Finger durch das Drahtgitter in dem Käfig an der Seite des Hauses, und die Schäferhunde beleckten mich mit rauen Zungen. Dann folgte ich ihm durch den Kuhstall, den Laufgang für die Schafe, durch die Pferche und vorbei am Räudebad bis zu dem großen Ahorn am Ende der Zufahrt, und er erzählte mir, dass er als Junge einmal von diesem Baum gefallen sei und sich den Arm gebrochen habe. Ich starrte in die Zweige hinauf und stellte mir vor, wie er zu Boden getrudelt war - schön und lautlos wie die Samen des Baumes.
»Schau mal her«, sagte er hinter der Scheune. »Dachsspuren.«
Ich antwortete nicht. Ich studierte seinen Hinterkopf, die glatte blasse Haut hinter seinem Ohr.
Die Rinder standen ruhig und dampfend auf der Weide hinter dem Haus und kauten mit heißen Mäulern an ihrem Heu. Ich war eine Überraschung für sie. Sie hoben die Köpfe und schnalzten mit seifigen Zungen nach mir. Ihr Atem war warm und roch süß. In ihren glänzenden kastanienbraunen Augen konnte ich mein Spiegelbild sehen.
Unter einem grauen Himmel dachte ich: Meine Mutter ist jetzt tot.
»Gefallen sie dir, Evie?«, fragte mein Großvater.
Ich fühlte mich hart, als wären lauter Steine in mir.
»Ja.« Es gab keine andere Antwort.
Während ich ihm auf die Weide hinaus folgte, drehte ich mich um und sah, dass meine Großmutter uns vom Küchenfenster aus beobachtete. Sie winkte fröhlich mit einem roten Geschirrtuch in der Hand.

* * *

Also. Mein erstes Zuhause war ein Reihenhaus aus rotem Backstein in Birmingham gewesen, mit Eisenbahngleisen am Ende des Gartens, Taubendreck auf den Eingangsstufen und einem Blick über die Stadt aus dem Badezimmerfenster. Ich wusste, wie viele Schritte es bis zum Laden an der Ecke waren. Ratten hausten entlang des Bahndamms, und ein- oder zweimal hörte ich sie wie Raketen unter unseren Gartenschuppen schießen.
Dies hier war mein zweites. Pencarreg. Ein Wort voller Schatten und knackender Laute, das ich im Mund herumrollte wie ein Fruchtbonbon; ein vermooster Bauernhof hinter einer Reihe von Linden am Ende eines windgepeitschten Weges, kein Teppich in der Diele, ein pelziger Nachtfalter neben dem Lichtschalter im unteren Klo, verstaubte Glühbirnen und eine Treppe, die sich beklagte, wenn ich ihre Stufen betrat. Selbst wenn ich mich nahe am Geländer hielt, murrten die Bodenbretter. Das ganze Haus roch muffig. Die Vorhänge ließen sich nicht richtig zuziehen. Die Schubladen rochen nach Kirche, als hätten sie dringend Sonne nötig. An den Wänden hingen Bilder, die ich mir der Reihe nach genau ansah. Frische weiße Blumen fingen Staub in Glasvasen. Und an meinem zweiten Abend entdeckte ich in meinem Zimmer einen tief in den Fensterrahmen geritzten Buchstaben - K. Warum K? Der Buchstabe war gerade, elegant und fühlte sich glatt an unter meinen Fingerspitzen. Mein Nagel passte genau in die Rillen.
Keine Züge. Kein Verkehrsgeräusch. In der Nacht war das ehemalige Zimmer meiner Mutter so finster, dass ich nicht sagen konnte, ob ich die Augen zuhatte oder nicht.
Niemand im Brych-Valley lebte höher oben. Ich glaube, wir waren - und sind noch immer - der Dachboden des Dorfes; voll gestopft, Spinnweben überall, und die meiste Zeit des Jahres feucht. Und der Wind ließ uns so gut wie nie in Ruhe. Wenn die Leute in Cae Tresaint von einem leichten Zittern der Wetterfahne oder einer zuschlagenden Tür geweckt würden, fielen bei uns gleich die Ziegel vom Dach, erklärte meine Großmutter mir über den Rand ihrer Brille hinweg. In den Herbststürmen konnte alles, was nicht niet- und nagelfest war, nach Ceredigion davongeweht werden. Sogar Unterwäsche von der Wäscheleine war ihr auf diese Weise abhanden gekommen. Ich sah das Bild vor mir - weiße Pumphosen, die über die Köpfe erstaunter Schafe hinwegflatterten.
»Wir haben auch schon tiefen Schnee gehabt, hier oben«, sagte sie. »Aber das wirkliche Problem ist der Wind. Hast du ihn heute Nacht gehört?«
Ich nickte.
»Er fegt vom Meer herein und steuert schnurstracks auf uns zu. Und dann der Regen É Aber weißt du«, sie lehnte sich zu mir herüber und zwinkerte, »wenn es schneit, ist unsere Straße ideal zum Rodeln.«
Ich blinzelte erstaunt. Rodeln?
»Frag deinen Großvater. Als er so alt war wie du, ist er auf einem Servierbrett da hinuntergesaust.«
Ich nahm diesen Gedanken zusammen mit Hund und zwei Wärmflaschen ins Bett. Schichten, erklärte sie mir, seien die Lösung. Ich nickte, zog mehrere Pullover übereinander und behielt meine Strümpfe an.

Meine Großmutter hieß Louisa, ein Name wie ein wispernder Windhauch. Aber niemand nannte sie so, sie sagten alle Lou. Sie erinnerte mich an die netten kleinen Frauen von Waschpulverreklamen mit ihrer Geschäftigkeit, ihren kräftigen Armen und ihrer munter-energischen Art. Ihre Tüchtigkeit schüchterte mich am Anfang ein - war ich ihr im Weg? War ich eine Plage für sie? Doch kein einziges Mal kam mir, während ich sie durch die Stäbe des Geländers beobachtete, der Gedanke, dass auch sie sich erst an mich gewöhnen musste. Für mich war sie bloß eine Frau, die wusch und schrubbte und schälte.
Und ich hatte den Eindruck, dass sie häufig schniefte. Es fiel mir auch auf, dass sie vor sich hin summte, wenn ich ihr beim Bügeln zusah, dass sie aber aufhörte, wenn ich wieder hinaufging. Als an meinem dritten Tag Reverend Bickley mit noch mehr weißen Blumen und sanfter Stimme seine Aufwartung machte, zauberte meine Großmutter eine richtige Teekanne und eine Keksdose hervor und spielte die Fröhliche. Ich weiß, dass sie es nicht war, denn fröhliche Menschen stehen nicht im Flur herum und starren grundlos auf den Boden, aber sie spielte ihre Rolle gut. Wenn es Zeit zum Schlafengehen war, drückte sie mir kräftige Küsse ins Haar. Und sie hatte ein Bäuchlein, eine weiche Wölbung, die Hund und ich nur bemerkten, wenn sie hinaufgriff, um eine der Pfannen herunterzuholen, die neben getrocknetem Lavendel und Kornähren auf rostigen Haken über dem Küchentisch hingen. Ich wartete auf den Tag, an dem uns eine der Pfannen während des Essens auf den Kopf fallen würde.
Obwohl ihr Haar von grauen Strähnen durchzogen war und nicht so dicht, dass sie es nur mit einem Bleistift zusammenhalten konnte, hatte es etwas Vertrautes für mich. Es hatte den gleichen Schwung. Das Letzte, was ich sah, wenn ich abends durch die Ritze in ihrer Schlafzimmertür spähte, war ihr Haar, das sich wie ein Fächer um ihre Schultern breitete. Haar war so schön, wenn es glatt auf die Schultern fiel. Wäre ich mit solchem Haar geboren worden, hätte ich es immer nur so getragen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.07.2005