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Wenn ich an Mrs. Barret, meine alte Lehrerin, dachte, fiel mir nur ihr Hut ein, der wie ein Pfannkuchen ausgesehen hatte, und wie sie in den Pausen die Pfützen weggefegt hatte. Das beschäftigte mich - wohin ging das Wasser? Terry Mulligan war eine Woche lang mein bester Freund, weil er Gelenke wie aus Gummi hatte. Mrs. Sima Singh am Ende unserer Straße gab keinen Ton von sich, wenn sie nieste; sie hob nur den Handrücken vor die Nase und zitterte ein bisschen.
Auch mein erster Freund ist ein gutes Beispiel dafür, wie mein Gehirn funktioniert. Ich war fünfzehn; er war blond. An seinen Familiennamen kann ich mich nicht erinnern, aber ich weiß, dass er eine gebrochene Rippe hatte - ein Vermächtnis aus jahrelangem Rugbygedränge. Ich fand sie unter seinem Hemd - ein kantiger Knochen, der sich kühl und glatt anfasste und sanft gegen meinen Körper stieß. Er passte genau in meine Hand.
Meine Mutter hieß Bronwen, und sie starb, als ihr Herz ohne jeden Grund zu schlagen aufhörte - das kann vorkommen, wurde mir seither immer wieder beteuert. Ihr Geburtstag war im April, und sie war immer am glücklichsten, wenn die Bäume in unserer Straße an diesem Tag blühten - sie füllte alte Nescafégläser mit den blühenden Zweigen. Sie tanzte in der Küche verträumt zu Schlagern aus dem Radio. Sie sang mit einem walisischen Akzent. Sie war früher geritten und vermisste es. Sie hatte ein Muttermal am unteren Ende der Wirbelsäule, das sie hasste. Wenn sie wütend war, schlug sie manchmal auf diese Stelle ein, als wäre nur das Muttermal an allem schuld. Das verstand ich nicht. Ich stolperte verängstigt hinter ihr her und hoffte, sie würde aufhören. Das Mal hatte die Farbe von Sahnekaramell und die Form eines Bootes, und ich mochte es. Immer wenn sie sich vorbeugte, suchte ich es mit den Augen.
Manchmal tuschte sie sich die Wimpern. Ich klatschte Beifall, wenn sie einen Apfel schälte, ohne abzusetzen, und es beeindruckte mich, dass eine Erwachsene immer noch die Brücke machen konnte, auch wenn es jedes Mal bedrohlich knackte, wenn sie es versuchte. Die Zigaretten hinterließen einen karottenfarbenen Fleck auf ihrem rechten Mittelfinger. Sie trug ein Silberglöckchen um den Hals - der einzige Anhänger, der von einem Armband übrig geblieben war, das sie noch in Wales verloren hatte, bevor sie meine Mutter wurde. Das Glöckchen bimmelte, wenn sie lief. Ich wusste auch, dass das Badezimmer der Raum war, in dem sie am liebsten weinte, weil sie glaubte, ich könnte sie über dem Gluckern des sich wieder füllenden Wasserbehälters nicht hören. Aber ich hörte sie. Ich lungerte auf der Treppe herum, steckte die Beine durchs Geländer und lauschte den beiden unterschiedlich gurgelnden Geräuschen von nebenan.
Einmal um die Mittagszeit, ich war damals fünf, steuerte ich meinen Spielzeuglaster über die Teppichfliesen und entdeckte etwas unter ihrem Bett. Eine braune Schuhschachtel mit bunten Gummiringen darum herum. Sie schrie auf, als sie sah, wie ich mich darüber hermachte. »Gib das her! Gib mir das, Evie! Was glaubst du eigentlich! Rühr das nie an, hast du verstanden? Es gehört nicht dir.« Sie riss mir die Schachtel aus der Hand und drückte sie an sich wie ein Neugeborenes, das ich zu unsanft angefasst hatte. Ich blinzelte, dann heulte ich los. Der Platz unter ihrem Bett wurde danach zu einem gefährlichen Ort für mich.
Es war mir auch nicht erlaubt, in ihre Handtasche zu gucken, aber ich tat es trotzdem. Sie war voller wunderbarer Dinge - klebriger Lippenbalsam in einem kleinen Tiegel, Haarspangen mit Blumen, das Foto eines Mannes mit der Sonne im Haar, ihre weißen Pillen, ihr Schlüsselring aus Plastik mit dem roten Drachen daran.

* * *
Fast alle fanden sie schön. Vor allem unser Briefträger. Er wippte auf den Fersen, wenn sie mit ihm lachte, und fragte sie immer, wie es der Kleinen ging. Mrs. Willis sagte mir, sie sei ein Engel, obwohl ich das insgeheim bezweifelte, weil die Engel in meinen Bilderbüchern alle honigblond waren und keine dunkelhaarigen, Zigaretten qualmenden Frauen, die Schuhschachteln unter dem Bett versteckten und deren Job es war, für fremde Leute Spiegeleier zu machen. Aber Mrs. Willis glaubte es. Wenn ich gedankenlos über ihre Osterglocken lief, schimpfte sie, hob die geknickten Blumen auf, wickelte sie in Zeitungspapier und gab sie mir für meine Mutter mit. »Ein kleiner Sonnenstrahl«, sagte sie, »für diese Heilige von einer Mutter, die du hast.«
Der Mann, der den Eiskremwagen fuhr, sah meine Mutter immer zu lange an. Und wenn sie je eine Waffel Eis bei ihm kaufte, gab er ihr immer eine Extraportion Liebesperlen drauf, zwinkerte und lehnte sich dann weit aus dem Fenster seines Wagens, um ihr nachzusehen und noch einen letzten Blick auf ihr schwingendes dunkles Haar zu erhaschen. Ich mochte das nicht. Ich witterte eine Gefahr darin, und an einem Feiertag schraubte ich aus heiterem Himmel die Ventile an den Reifen seines Wagens auf und schwor mir, nie wieder einen Eislutscher bei ihm zu kaufen. Ich sparte alle meine Fünfzig-Pence-Stücke, legte sie in einen alten Blumentopf und träumte davon, mir einen Space Hopper und fluoreszierende kleine Monde und Sterne zu kaufen, die ich über meinem Bett an der Zimmerdecke befestigen wollte - um meinen eigenen Nachthimmel zu haben, wenn ich nicht schlafen konnte. Lüge oder nicht, ich schaute gerne aus dem Bett zu den Sternen hinauf und redete mir ein, dass ich auf geheimnisvolle Weise von da oben käme.
Aber Mrs. Saunders mochte meine Mutter nicht. Und auch die Frau, die in dem Fish-and-Chips-Laden die Pommes schaufelte, mochte sie nicht. So sei das halt mit manchen Frauen, erklärte mir Mrs. Willis, weil Menschen eben gehässig sein können. »Eifersucht«, versicherte sie mir, »schlicht und einfach.«
In meinem Versteck neben den Bahngleisen dachte ich darüber nach, aber ich begriff nicht ganz, was meine Mutter hatte, das andere Frauen so bissig und scheeläugig machte. Vielleicht war es das Muttermal oder der weiße Schal, der sich wie Kaninchenfell anfühlte, oder dass sie immer eine Extraportion Liebesperlen auf ihr Eis bekam. Ich kam nicht dahinter. Ich war zu jung, um Schönheit zu begreifen, und was sie bewirken kann. Nicht einmal als Mrs. Saunders eines Nachts an unsere Tür hämmerte und auf uns einschrie, begriff ich, was los war. Sie zeterte und schluchzte und warf ein Glas mit blühenden Zweigen an die Wand. Das Glas zerbarst. Das Haus bebte. »Ab ins Bett, Evie«, sagte meine Mutter.
Hinterher kam sie zu mir herauf und deckte mich zu. Ich roch ihre Wärme, ihren Jasminduft. »Warum war sie wütend?«, fragte ich.
»Weil sie unglücklich ist und weil sie Angst hat. Aber« - sie gab mir einen Kuss auf den Kopf - »das ist nicht unsere Schuld. Es hat nichts mit uns zu tun. Hast du Hund?«
Eine Woche später, als Mrs. Willis ihre Wäsche aufhängte und ich zwischen den duftenden Laken herumlief, erzählte sie mir, dass Mr. Saunders seine Frau wegen einer verlassen hatte, die halb so alt war wie er.
»Schmerz hat viele Gesichter, Schätzchen.«

* * *
Wie wahr. Immer, wenn ich trübe Augen sah oder Türen leise ins Schloss fallen hörte, dachte ich an ihre Worte. Meine Großmutter presste sich manchmal die Hand vor den Mund, wie um ein Geheimnis hinunterzuschlucken. Daniel lief durch die Gegend, wenn er traurig war, zum Tor-y-gwynt hinauf oder zu den Goldminen, und oft folgte ich ihm, durch Brombeerhecken kriechend, ohne je seine breiten Schultern und sein dichtes braunes Haar aus den Augen zu lassen.
Und der Schmerz kann einen Menschen auch verrückt werden lassen - oder so gut wie verrückt. Er hat Rosies Mutter, Mrs. Hughes, zerstört. Würde man mich nach ihr fragen, wäre meine erste und stärkste Erinnerung an sie das Bild, wie sie Ende Juli vor dem Pub »Zum Weißen Hirschen« zusammenbrach - wie eine Marionette, der die Fäden durchgeschnitten wurden, oder wie kriechender Efeu, wenn man die Wand wegbricht. Kein Rückgrat, nur schlaffe Haut und ein tiefes Stöhnen wie von einem Tier.
Das ist Schmerz. Er ist verstohlen und zeigt sich kaum jemals offen, aber für uns, die wir damals am Pub vorübergingen, war er unverkennbar.
Pencarreg
In jener Nacht wehte ein westlicher Wind vom Meer herein. Er fegte über Landungsbrücken und graue Strände, über die Minen, die Steinbrüche und die Mühlen von Ceredigion, über Rugbyplätze und Cricketfelder, durchs Teifi-Tal, über versteckte Feldwege und zerbröckelnde Zinnen hinweg, über verlorene Abteien, leere Marktplätze und weiter herein ins Land, hob sich über das Kambrische Gebirge, brauste über die Fichtenschonungen, Tor-y-gwynt, unsere Schafweiden und unser gedrungenes Haus mit seinem blauen Schieferdach und brachte einen dicken, schweren Regen mit sich, der mich weckte. Genauer gesagt war es der Efeu, der sich an meine Fensterscheibe klammerte, was mich weckte. Er trommelte ans Glas, als begehre er Einlass. Ich blieb mit weit aufgerissenen Augen unter meiner Decke.
Nach dem Frühstück wurde mir der Hof gezeigt.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.07.2005