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Aber es ist nicht die schönste Aussicht. Die hat man von der alten Schäferhütte oben auf dem Bergkamm. Meine Burg. Mein bemooster, windiger Außenposten. An klaren Tagen bin ich dort hinaufgerannt, voller Hoffnung, in der Ferne die in Dunst gehüllte Cardigan Bay zu erspähen. Hinter Felsen versteckt, lauerte ich auf Bergsteiger und Vogelbeobachter, hoffte, vielleicht ein Reh zu sehen oder gar einen Blick auf Billy Macklin zu erhaschen, bevor er mein Freund wurde. Ich hielt windumbrauste Picknicks zwischen den Grasbüscheln da oben, rauchte heimlich meine ersten Zigaretten und träumte in den Tag hinein. Wenn es regnete oder wenn ich einfach nicht gefunden werden wollte, verkroch ich mich in der Hütte. Die Sterne waren da oben immer überwältigend. Ich habe stundenlang zugesehen, wie Satelliten über den Himmel glitten. Und als der HalleyÕsche Komet gespenstisch funkelnd über unsere Felder zog, brachte er meine Großmutter zum Weinen.
Mein seltsamer erster Kuss. Auch das ereignete sich dort oben, vor diesen Felsen - eine rasche, trockene, geschmacklose Angelegenheit, kaum wirklich ein Kuss. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, als seine Zähne gegen meine schlugen. Und ich weiß auch noch, dass ich mich betrogen fühlte, ja sogar zornig war. Ich hatte keine Ahnung, dass viel bessere Küsse von viel besseren Männern noch kommen sollten.
Und meine Schäferhütte war der erste Ort, an dem die Polizisten in jenem Sommer suchten, sobald sie den Verdacht hatten, dass es eine Leiche zu finden gab.
Es war ein glühend heißer Juli. Er hatte unser Leben verändert. Er brachte Schatten ins Dorf. Die Sorge hing mit den Glocken des letzten Fingerhuts über den Wegen. Die Männer hatten dunkle Halbmonde unter den Armen und wir schliefen bei geöffneten Fenstern. Aber sie haben nichts gefunden da oben auf dem Kamm, natürlich nicht - nichts außer Sumpfgras, Wollfusseln und meinen Fußabdrücken. Und dieser Aussicht. Sogar die Polizisten hielten einen Augenblick inne, beschatteten die Augen und schauten. Von unserem wilden Rhabarberbeet aus sah ich zu, wie sie suchten.

Der Weg zur Hütte ist mir jetzt zu anstrengend. Ich gehe wie eine alte Dame und ich döse wie eine. Reverend Bickley fand mich vorgestern Nachmittag schlafend vor, und es war ihm peinlich, dass er mich geweckt hatte. Er weiß Bescheid über Rückenschmerzen. Vierundachtzig und arthritisch, völlig gebeugt, und trotzdem predigt er immer noch einmal im Monat in St. TysulÕs, treibt immer noch böse Geister aus, wenn es nötig ist, und macht sich immer noch die Mühe, sich zu mir heraufzuschleppen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, obwohl er immer so tut, als käme er rein zufällig vorbei. Er bringt mir Lebensmittel, um die ich nie gebeten habe - Lauch, getrocknete Aprikosen gegen Eisenmangel, gefleckte Birnen von seinem eigenen Baum, dessen Äste sich unter der Last der Früchte biegen. Diese Birnen sind so köstlich wie eh und je - saftig und gelb, mit der Wärme des Sommers in sich. Ich habe gelernt, sie in Brandy zu dünsten, sie zu karamellisieren und in Sahne einzurühren, sie in Scheiben zu schneiden, zu zuckern und einen Kuchen damit zu füllen. Oder wir essen sie einfach so, wie sie sind, Daniel und ich - schlagen unsere Zähne ins Fleisch und lassen uns den Saft über die Hände rinnen. Ich kenne das Klopfen des Reverend am Fenster - leise, entschuldigend. Und ich weiß, dass ihm meine Großmutter fehlt. Ich glaube, er kommt her, um zu sehen, ob das, was noch da ist von ihr, wohl zurechtkommt. Außerdem vermute ich, dass er sich einsam fühlt - keine Frau mehr, keine Kinder, und ein Haus mit vier Zimmern auf der Straße nach Tregaron, das vor nicht allzu langer Zeit unter Wasser stand, als der Teifi und der Brych über die Ufer traten und es nicht mehr aufhörte mit dem Regen.
Ich mache mir manchmal Sorgen um ihn. Wenn ich nicht schlafen kann, mache ich mir Gedanken um sein müdes Herz und unseren müden Bauernhof, um die Bedrohung unserer Schafe durch Füchse, Fliegenmaden, Schaflausfliegen und Nachtschattengewächse, und frage mich, ob ich es schaffen werde, ob ich überhaupt noch will oder ob es nicht sinnvoller wäre für Daniel und mich, den Hof zu verkaufen und anderswo hinzuziehen, ob es nicht besser wäre, Wales den Rücken zu kehren, die Vergangenheit hinter uns zu lassen, die Gespenster, die Fehler, die Schwierigkeiten, um an einem brandneuen Ort ein neues Leben und ein neues Millennium zu beginnen, mit einem ganz neuen, ernsthaften Ziel.
Nur sechs Wochen. Dann werde ich nicht mehr die sein, die ich jetzt bin. Nicht lange. Ich zähle die Minuten. Ich denke an meine Großeltern, an das Moos, das auf ihre Gräber kriecht. Ich denke an meine Mutter. An Billy. Und ich denke an die Hand eines bestimmten Mannes, an seinen Mund auf meinem auf einem Marktplatz im Regen, an seine glatte Blinddarmnarbe.
Rosie. In Cae Tresaint dringt ihr getuschelter Name immer noch durch geschlossene Türen und die Farne seufzen ihn im Wind. Wie kann sie je zur Ruhe gebettet werden? Wenn ich unter unseren Linden spazieren gehe, glaube ich oft, sie für einen Augenblick auf ihren Rollschuhen und mit ihren Goldringen in den Ohren zu sehen. Sie wäre jetzt dreiunddreißig.
Und als wäre diese Geschichte nicht genug, gibt es noch eine, die mich quält. Sie ist mir vor drei Nächten wieder eingefallen - wie meine Mutter, im Alter von vier Jahren, auf einem Tagesausflug an die Küste verloren ging. Meine Großmutter hatte in ein Schaufenster geguckt, und als sie sich nach ihr umdrehte, war sie weg. Großmutter rannte die Strandpromenade entlang und schrie, packte fremde Leute am Ärmel, auf der verzweifelten Suche nach einem Mädchen in einem zitronengelben Sommerkleid mit Spitzenbesatz. Sie rief die Polizei, weinte, und holte sich einen Sonnenbrand. Sie stolperte auf der Promenade und schlug sich das Knie auf. Zum Schluss wurde meine Mutter mit klebrigen Fingern und nur einem Schuh in der Spielhalle gefunden.
Es gibt schlimmere Geschichten. Jahrelang hat mir diese nichts bedeutet. Aber jetzt scheint sie mich zu verfolgen. Sie lässt mich aus dem Bett steigen und das Licht einschalten. Ich höre die Warnung meiner Großmutter darin - dass es eine brutale, flammend heiße, messerklingenscharfe Art der Angst gibt. Dem kommt nichts gleich, hatte sie verkündet. Es nimmt dir den Atem. Es verwandelt dich in etwas, das nur aus Zähnen und Klauen besteht. Warte nur, hatte sie gesagt. Du wirst schon sehen.
Wir warten alle.
Irgendwer hat gestern auf der Veranda einen Perlenvorhang aufgehängt, um die Fliegen fern zu halten, und der Landrover ist ausnahmsweise sauber und steht voll getankt bereit. Ich kann ihn von meinem braunen Lehnstuhl aus sehen. Daniel hat das vordere Schlafzimmer in einem weichen Eierschalengelb gestrichen, und als ich heute früh die Treppe hinaufkam, sah ich, wie er mit dem Daumen den Türrahmen entlangfuhr, um zu prüfen, ob er nicht splittrig ist.
Meine Mutter hätte das auch getan. Sogar an ihren ruhigen Tagen hielt sie nach kleinen Gefahren Ausschau - Rosendornen, Reißnägeln, den Dingen, die mich unbemerkt und lautlos verletzen könnten.
Furcht ist der Preis, den wir für die Liebe zahlen. So steht es im Vertrag. Trotz allem, was geschehen ist, wird mir das jetzt erst klar, wo nur noch sechs Wochen vor mir liegen.

In gewisser Weise war ich ein unachtsames Kind. Ich hörte die Türglocke nicht, ich lief fast in Autos hinein, und einmal holte ich mir eine böse Erkältung, weil ich bei schlechtem Wetter im Freien gespielt hatte. Als meine Mutter mich mit dem Handtuch abrubbelte, mit ihren schwarzen Augen anblitzte und Erklärungen verlangte, war meine Antwort schlicht und einfach: Ich habe nicht bemerkt, dass es regnet.
Aber es gab auch Dinge, die mein Geist wie Löschpapier aufsaugte. Seltsame Begebenheiten ließen ihre Spuren zurück. Das beunruhigte meine Mutter. Eines Nachmittags, als sie mich von der Schule abholte, fragte ich auf dem Heimweg, woher Mrs. Everett alle ihre Ringe hätte.
»Mrs. Everett?«
»Mhm. Die Dame mit dem weißen Hund. Die mich immer im Kinderwagen spazieren gefahren hat, wenn du arbeiten musstest.« Ich hopste über Ritzen im Gehsteig. »Wo hat sie ihre Ringe her?«
Meine Mutter verlangsamte ihren Schritt, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und starrte mich an. »Du erinnerst dich an sie? Wie ist das möglich, dass du dich an sie erinnerst?«
»Die vielen glitzernden Ringe. Glaubst du, dass die echt waren?«
Erst zu Hause, nachdem sie eine Kanne Tee gemacht und sich mit mir vor dem Fernseher zusammengekuschelt hatte, sagte sie: »Mrs. Everett war drei Mal verheiratet. Ihre Männer sind alle gestorben, weißt du. Das waren ihre Verlobungsringe.«
»Sie sind alle gestorben?«
»Alle.«
Mrs. Everett tat mir Leid, und ich sagte es meiner Mutter.
Sie blies auf ihren Tee. »Vielleicht hat sie Glück gehabt. Drei Männer wollten sie heiraten. Manche finden nicht einmal einen.«
Das waren die Dinge, die ich in meinem Kopf hortete wie gestreifte Pfefferminzbonbons in einem Glas. Nichts Besonderes - keine Gesichter, keine Geschichten, die sie erzählten, nur dumme Kleinigkeiten, über die ich ins Sinnieren kam, sobald das Licht ausgeschaltet war.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.07.2005