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Ich habe mir in die Wangen gezwickt, damit sie aussehen wie von der Sonne angehaucht, habe auf der Straße herumgestanden und auf ihn gewartet. Wir üben den spontanen Blick; wir perfektionieren das Ungezwungene. Es gefällt mir, zu wissen, dass sie das auch getan hat, dass sie schön sein wollte, und keine Ahnung hatte, dass sie es ohnehin war. Und ich mag auch die Vorstellung von meinem Vater, wie er auf einem Friedhof in der Abendsonne sitzt. Das Bild ist besser als jenes, das so viele Menschen mir im Lauf der Jahre von ihm gezeichnet haben.
Auf die Rückseite des gelben Zettels hat sie mit derselben Feder ihren Namen geschrieben. Bronwen. Dunkel und rein. Das o makellos wie ein Stern, offen wie ein Fenster. Ich schaue es an, und irgendetwas in mir wird wieder sieben - ich möchte in diesen Buchstaben hineinkriechen, mitten hinein in das warme, verlangende Herz meiner Mutter, bevor es in einem nach Jasmin duftenden Bad zu schlagen aufhörte.

Tor-y-gwynt
Mrs. Hughes. Vor zwei Nächten habe ich von ihr geträumt.
Es war ein blasser, fließender Traum, in dem sie mir durch ihre zum Trichter geformten Hände etwas zuflüsterte, aber sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte sie nicht verstehen. Ich hatte das scheußliche Gefühl, sie abermals im Stich zu lassen. Daher beschloss ich am Nachmittag, die letzten unserer großblumigen Rosen zu ihrem Grab zu bringen. Sie wachsen neben der Abflussrinne vom Kuhstall, elegante bonbonrosa Rosen, über die meine Großmutter jeden Juli in Begeisterung ausbrach. Sie haben eine zarte gelbe Mitte, samtige, leicht gekräuselte Blütenblätter, und sie duften so süß, dass es fast schon obszön ist. Der Geruch ist wie ein Überfall. Er steigt so heftig in die Nase, dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Und genau deshalb liebte meine Großmutter sie so - auf einem Bauernhof, sagte sie, rieche so wenig gut.
Ich fand sie passend. Hundsrose - Rosa canina, die größte der wilden Rosen. Ich hatte Mrs. Hughes nicht wirklich gut gekannt; wir hatten kaum je ein Wort miteinander gewechselt. Die Erwachsenen teilten sich für mich in zwei Gruppen, als ich acht war - diejenigen, die mir zuzwinkerten und meine Geheimnisse für sich behielten, und die anderen, die mir auf der Straße aus dem Weg gingen. Sie ging mir aus dem Weg. Sie hatte Schuhe mit Absätzen, einen teuren Geruch an sich und trug angeblich rote Unterwäsche. Den Teil habe ich nie geglaubt - wer sollte das denn gesehen haben? Gerry ließ Münzen fallen, um eine Bestätigung dafür zu finden. Wenn er sich nach den Münzen bückte, schaute er ihr unter den Rock. Wir kamen nie wirklich dahinter, aber jedenfalls hatte Mrs. Hughes etwas so Vornehm-Korrektes und Reserviertes an sich, dass es spannend war, sich solche Sachen vorzustellen. Sie war immer so gefasst. Und sie hatte ein knappes geübtes Lächeln.
Aber das war alles, bevor Rosie verschwand. Danach veränderte sie sich. Sie wurde über Nacht mager. Kein Make-up mehr. Ihre Hände konnten nicht stillhalten, und ihr Blick hatte etwas Flehendes und Verzweifeltes. In den Zeitungen und im Fernsehen sah sie aus wie jemand anders, älter. Sie gewöhnte es sich an, in ihrem Erkerfenster beim Telefon zu sitzen, auf die Straße hinauszustarren und dabei an der Haut ihrer Hände zu kauen. Ich erinnere mich, wie ich einmal mit einem Eislutscher an ihrem Haus vorbeikam und ihren Blick auffing. Mit klebrigen Fingern hielt ich einen Augenblick inne. Ein schwaches Lächeln lag in ihrem Blick. Ich hoffe, ich habe es erwidert. Wie auch immer, von jenem Tag an betrachtete ich Mrs. Hughes mit anderen Augen, und ich dachte an dieses verlorene, müde Lächeln, als man sie fast vier Jahre später, voll gestopft mit Aspirin und Wodka und kalt wie ein Stein in ihrem Bett fand. Kein Abschiedsbrief, hieß es, aber es war auch kein Unfall.

* * *
Ich nahm ein Marmeladenglas mit und einen Spaten. Es war ein schöner Nachmittag von der schläfrigen Spätsommerart; die Mücken tanzten in der Luft und die Ringeltauben gurrten. Über ihr Grab krochen weiße, fedrige Flechten, und ich verbrachte eine Stunde damit, sie, auf einer Mülltüte unter dem Eichenbaum kniend, zu entfernen. Flechten sind ein Beweis für saubere Luft. Sie wachsen hier überall, zusammen mit Jakobskraut und Sternmiere - man würde sich einen Ort, der so Schweres durchgemacht hat, kaum so vorstellen, aber man soll sich eben keine voreiligen Meinungen bilden. Das habe ich inzwischen gelernt. Nur weil ein Mensch lächelt, heißt das noch lange nicht, dass er freundlich ist; eine gepflückte Blume und Versprechungen bedeuten nicht unbedingt Liebe.
Es gibt niemanden mehr, der sich um Mrs. Hughes kümmern könnte. Ich nehme es auf mich, ihr Grab zu pflegen - ich steche das Unkraut aus, als könnte ich mich damit irgendwie für meine Rolle in der Sache entschuldigen, ihre Qual lindern. Obwohl sie ja jetzt nicht mehr leidet. Ich tue es trotzdem.
Als die Schatten länger wurden, kam eine junge Frau auf den Friedhof, die ich nicht kannte - blondes Haar, schlank, mit einem Strauß Freesien, in Küchenrolle gewickelt. Sie warf mir einen Blick zu, bemerkte meinen gerundeten Bauch und strich sich über ihren, wie um sich zu vergewissern, dass er glatt und flach war. Ich setzte mich auf die Fersen. Vielleicht lebt sie jetzt hier, dachte ich, in Cae Tresaint. Vielleicht betrachtet sie mich und fragt sich, wer ich bin, ob ich nur zu Besuch hier bin. Oder vielleicht weiß sie genau, wer ich bin. Vielleicht hat sie die Gerüchte gehört und kennt die Geschichte von Billy Macklin und mir. Ihr Haar war ganz glatt, genau von der Art, mit der ich immer eines Tages aufzuwachen gehofft hatte. Ich nickte ihr einen Gruß zu. Sie erwiderte ihn, aber sie ließ die Hand auf ihrem Bauch liegen. War das ein Zeichen von Missbilligung? Wenn ich so abergläubisch wäre wie manche Leute es hier sind, würde ich nicht hier knien - eine Frau, die ein Kind erwartet und das Grab einer Frau betreut, die ihr Kind verloren hat.
Hier wird nichts so leicht vergessen. In gewisser Weise ist das vielleicht ein Trost, eine Art Unsterblichkeit. Ich glaube, ich habe meinen Stempel hier zurückgelassen, meinen Daumen in die Erde von Cae Tresaint gedrückt wie meine Mutter, meine Großeltern und die anderen JonesÕ. Aber die Vergangenheit ist auch eine Last gewesen. Eine schwere, erdrückende Last, die ich jahrelang gerne abgeworfen hätte. Nichts ist neu. Das Quietschen jedes Tores erinnert uns an all die Hände, die es vor uns aufgestoßen haben. Hinter jedem Augenpaar, dessen Blick zum ersten Mal auf mich fällt, regen sich Erinnerungen wie Sand unter dem Strom der Gezeiten. Du bist also Eve Green, scheinen sie zu sagen. Aha.
Hier lässt keiner je los.
Nehmen wir nur einmal jenen Sommer, meinen ersten Sommer in Wales, als die Finger rasch auf den falschen Mann deuteten. Zwei Jahrzehnte liegt das zurück, und jeder im Dorf könnte immer noch genau erzählen, was damals geschah, oder seine eigene Version davon - wo er oder sie Rosie zum letzten Mal gesehen hat, wie der Schuldige gefunden wurde, ob das Feuer ein Segen war oder nicht. Das Feuer, das die Haut auf meinem linken Handgelenk Blasen werfen ließ, aus denen es tropfte. Ich glaube, ich kann es manchmal noch spüren.
Oder nehmen wir meinen Vater - fast dreißig Jahre ist es her, dass er hierher kam, und sein Name ist immer noch in die Gehirne eingemeißelt. Reverend Bickley hat einen braunen Briefumschlag mit Zeitungsausschnitten aus jener Zeit. Ich habe immer noch das Foto - das einzige Bild von meinem Vater, das Bild, das meine Mutter neben Kleingeld, Briefmarken und Tabletten in ihrer Tasche hatte. Ein gut aussehender Mann. Ein Mann in einem weißen Hemd, mit einem breiten Lächeln und der Sonne im Haar, die es leuchten lässt wie einen Heiligenschein.
Der Ire. So erinnert man sich an ihn, als wäre sein Name verflucht. Als könnte keiner je in den Himmel kommen, der ihn laut ausspricht.
Ich fühlte mich müde auf dem Friedhof. Ich verließ Mrs. Hughes und ging zu meinen Großeltern. Ihr Grab ist unordentlich, halb versteckt unter Hortensiensträuchern und Malven und sonnengedörrten Blumen, und anders hätten sie es auch nicht gewollt. Ich legte ein paar von den Rosen dazu und streckte mich daneben aus.
Sie fehlen mir. Meine Großmutter ist jetzt schon seit zehn Jahren tot, mein Großvater seit nicht ganz zwei, aber es knackt und knarrt noch immer im Haus, als gingen sie darin herum. Der Tod meiner Mutter war sinnlos. Er stach, verspritzte sein Gift, wie und wann er wollte. Mit dem Verlust meiner Großeltern ist es anders. Es ist ein liebevoller Schmerz. Ich muss mich damit hinsetzen.
Ich glaube, ich habe eine Weile geschlafen. Als ich erwachte, sah ich, dass es Abend geworden war, dass die Fledermäuse draußen waren. Das Gras war kühl. Ich wollte nach Hause, aber als ich mich auf die Ellbogen hochstemmte, hielt ich inne. Ich musste lächeln. Meine Großmutter hatte mir immer erzählt, dass ihr von ganz Cae Tresaint der einsame Wasserspeier über dem Eingang zur Sakristei das Liebste sei. Man kann ihn leicht übersehen. Die meisten bemerken ihn nie. Generationen haben hier ihr Leben zugebracht und sind gestorben, ohne das trollartige Ding je zu sehen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.08.2005