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Hör auf, Schätzchen. Der ist alt.«
Ich trat noch einmal hin. »Wie alt?«
»Sehr alt. Also«, sagte sie munter und faltete ihre Zeitung zusammen, »soll ich Mr. Wilkinson sagen, dass du kommst? Es wird dir gefallen. Vielleicht darfst du sogar ein bisschen reiten.«
Ich zuckte die Achseln.
»Gut«, sagte sie.
»Ich will nicht.«
Sie sah mich an. »Evangeline, wir alle müssen manchmal Dinge tun, die wir nicht mögen. Es tut mir Leid. Es ist ja nur für einen Tag.«
»Nur für einen Tag?«
»Nur für einen Tag. Versprochen. Wir kommen dich holen, sobald wir können. Und dann gibt es einen schönen Nachtisch. Okay?«
Ich wand mich in meinem Stuhl, dann nickte ich.
»Braves Mädchen.«
Sie stand auf, ging zur Spüle und wusch geschäftig ihre Tasse aus. Ich schmollte. Und wenn ich einen Tritt an den Kopf bekam wie Mad Billy Macklin? Hatte sie daran nicht gedacht? Oder wollte sie das vielleicht?
»Wer weiß«, sagte sie, »vielleicht gefällt es dir da.«

Wie lang uns unsere Straße auch vorkommen mag, wir sind immer noch nicht ganz am oberen Ende.
Hoch oben über dem Tal, über unserer kiesbestreuten Wendeschleife und den Brombeersträuchern und den Schafen gibt es eine Felsengruppe. Zerklüftete Felsen, seltsam geformt. Ich kann sie von meinem Zimmerfenster aus sehen, wie sie die Farbe wechseln, wenn Wolken darüber hinwegziehen. Meine Großeltern konnten mir nicht viel darüber sagen, wie sie dort hingekommen waren. Ich habe gefragt, aber alberne Antworten bekommen - sie wären von Feenwesen gemacht, erzählten sie mir, oder sie wären entstanden, als Berge sich bekriegten. Ich bin acht, murrte ich dann, ich bin kein Baby.
Tor-y-gwynt ist von Torfmooren umgeben, und das Gras ist dort so scharf, dass man sich daran schneiden kann. Gelegentlich kann man einen Rotmilan sehen. Die unteren Felsen sind von Schaf- und Kaninchenmist gesprenkelt, und im Lauf der Jahre habe ich viele Knochen im Moor entdeckt - von Schafen, Rehen und anderen Tieren. Der Wind weht kräftig da oben. Haar flattert in diesem Wind wie ein gefangener Vogel, und früher habe ich gerne auf dem höchsten Felsen gestanden und versucht, im Wind mein Gleichgewicht zu halten.
In den Wintermonaten aber ist es hart da oben. Der Regen schießt dort ins Moor wie Gewehrkugeln. Alte Schafe lassen sich bei den Felsen nieder und sterben. Es gibt eine gute Geschichte von einem Landarbeiter, der dort vor Jahren einmal Schutz suchte, und drei Tage später kam er ins »Brunant Arms« in Caio spaziert und redete nur Unsinn. Es heißt, dass er verrückt geworden ist und früh starb. Ich habe diese Geschichte voll und ganz geglaubt. Ich dachte an die Berge in der Nacht und fragte mich, was sich dort herumtreiben mochte - Wölfe, Geister, oder auch einfach nur Menschen, die nicht schlafen konnten.
Heute weiß ich es besser. Aber zwischen November und März halten sich die Leute von Tor-y-gwynt immer noch fern. Sie stopfen sich die Taschen mit Legenden und Klatschgeschichten voll und nehmen sie mit, wo immer sie hingehen. Sie erinnern sich immer an die schlimmen Dinge. Sie sagen, dass es am Tor-y-gwynt spukt und dass es gefährlich ist, dort hinzugehen.

Das ist der Ort, wo meine Mutter ihre letzte Ruhe finden wollte. Auch sie muss die Aussicht geliebt haben. Es hat mich eine Zeit lang gewundert - St. TysulĂ•s, wo meine Vorfahren begraben sind, schien mir ein geborgenerer, ruhigerer Ort. Aber sie hat sich für das Gras und die Schafknochen entschieden. Sie hat sich für Tor-y-gwynt entschieden, und meine Großeltern haben sich dafür entschieden, es mir nicht zu sagen. Sie dachten, der Gedanke an eine Einäscherung wäre zu viel für mich in meinem Alter. Ich weiß noch immer nicht, ob sie Recht hatten.
So wurde ich also am Ende des Jahres nach Bryn Mawr gebracht - einem weitläufigen Reitstall, geführt von Mr. Wilkinson, einem mürrischen Mann mit kaputten Zähnen und Achselgeruch. Sie drückten mir ein Lunchpaket und meine Malstifte in die Hand und lieferten mich beim Aufsitzblock ab. Dort lungerte ich herum und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Eine Frau mit einem Sattel trampelte vorbei und sagte mir, ich solle nicht im Weg herumstehen. Ich fühlte mich elend. Ich trottete zum nächsten Stall, schob den Riegel hoch und kroch hinein.
Ich verbrachte den Tag damit, mit ihrem Zugpferd zu reden, und zeichnete es mit meinen neuen Wachskreiden. Ein kräftiger, schweißiger, freundlicher Gaul. Er schnaufte durch fleischige Nasenlöcher und kaute Heu. Ich hatte keine Ahnung, dass meine Großeltern und Daniel, während ich mit überkreuzten Beinen unter einem Blechdach im Stroh saß, ihre Asche in den Wind streuten. Ihre Mäntel müssen sich im Wind von den Mooren her gebläht haben.
Das Zugpferd hatte Füße so groß wie Suppenteller. Ich hielt mich seinen Hinterbeinen fern. Als ich ihm etwas Heu reichte, nahm er es mit sanften Lippen entgegen, ohne meine Hand auch nur zu berühren.

Als sie mich holen kamen, wurde es schon dunkel. Es tat mir Leid, das Pferd verlassen zu müssen, und mein Großvater hob mich zur Stalltür hoch, damit ich ihm die Nase tätscheln und Auf Wiedersehen sagen konnte. Sein borstiges Maul zitterte unter meiner Berührung.
»Kann ich ihm nicht ein bisschen schönes Gras bringen? Oder vielleicht haben sie eine Karotte für ihn? Glaubst du? Könntest du fragen?«
»Es wird schon spät«, sagte er. »Du kannst bestimmt mal wieder herkommen und das Pferd füttern.«
»Ich möchte es jetzt füttern!«
»Evangeline, steig ein.«
Ich tat wie befohlen.
Meine Großmutter hielt ihr Wort an diesem Abend. Wir bekamen gezuckerte Krapfen mit leuchtend roter Marmelade, und ich vergaß zu schmollen.
Und als mein Großvater auf die Veranda ging, um das Licht abzudrehen, fand er einen Mistelbuschen auf der Türschwelle. Er hob ihn hoch und drehte ihn hin und her, als wäre es Zauberei.
»Für wen sind die?«, fragte ich. »Und von wem?«
»Kein Etikett dran«, antwortete er. »Ich weiß es nicht.«
Jedenfalls wurde der Mistelzweig im Wohnzimmer an der Zimmerdecke befestigt. Und jedes Mal, wenn meine Großmutter darunter durchging, griff sie hinauf und strich mit der Hand darüber.

Ich sehe jetzt eine gespenstische, tragische Geste darin - anonyme Geschenke so auf einer Türschwelle zu hinterlassen. Nur ein einsamer Mensch kann so etwas tun. Aber es sollten noch seltsamere Dinge geschehen. Und alles, was ich in dieser Nacht wusste, war, dass man mir etwas verheimlicht hatte. Ich lag im Bett, kratzte mich und spürte die Lüge. Daher dachte ich nicht allzu lange und allzu intensiv über die geheimnisvollen Misteln nach, den glänzenden Zweig von Viscum album, für wen er sein mochte und warum.
Meine Mutter kannte sich mit Blumen aus. Das weiß ich noch. Ich erinnere mich, wie sie im Cannon Hill Park ein einsames, zerzaustes wildes Stiefmütterchen pflückte und es mir hinters Ohr steckte. Viola tricolor, erklärte sie - einer der leichteren Namen. Sie hatte ein Auge für Blumen. Sie fand sie in den Mauerritzen von Häusern und zwischen dem Schutt auf Baulücken. Manche ließ sie stehen, aber die meisten nahm sie mit nach Hause - schließlich würden sie anderenfalls unbemerkt wachsen und unbeklagt sterben. So wurden sie wenigstens auf der Fensterbank in unserer Küche oder auf dem Fernseher bewundert. Blumen machten sie glücklicher.
Außerdem waren sie ein Hauch von Wales in ihrer Stadtwohnung, wie ich erst jetzt begreife. Neben der verfallenen Scheune in Cae Tresaint sind immer wilde Stiefmütterchen gewachsen, bevor sie in Brand gesteckt wurde. An der Südwand, gleich neben den Erdbeeren, streckten sie sich der Sonne entgegen. Ich trampelte blind über sie hinweg, wenn ich dort auf Entdeckungsreisen ging, mich unters Dach duckte und Sperlinge und Eichelhäher vertrieb. Sie hat das auch getan, ich weiß es. Sie ist dort gewesen und hat im Dämmerlicht herumgestanden. Mrs. Maddox hat behauptet, sie gesehen zu haben, an den Nägeln kauend und auf jemanden wartend. Auf ihn, versicherte sie mir.
Die alte Schuhschachtel meiner Mutter bestätigt das. Ich sitze hier an einem warmen Septembernachmittag mit einem Baby im Bauch, unten singt der Wasserkessel, und neben meinen Füßen steht die Schachtel. Die Schatztruhe meiner Mutter - und in gewisser Weise auch meine. Ein kleiner grauer Raum voller Weinkorken und Bierdeckel und vertrockneter Ketten aus Gänseblümchen.
Auf ein Stück braunes Papier, vielleicht die Rückseite eines Briefumschlags, hat sie in ihrer verschnörkelten kindlichen Schrift geschrieben - haben uns bei der Scheune getroffen, 5 Uhr Nachmittag, habe ihn nicht kommen gehört. Viel zu heiß jetzt - wir brauchen Regen. Er hat nach Erde gerochen. Wann werde ich es ihm sagen? Wann soll ich ihm die Neuigkeit verkünden?
Eine hastig hingekritzelte, etwas unzusammenhängende Notiz. Machen wir das nicht alle, wenn wir verliebt sind? Liebe macht blind, heißt es - aber ist es nicht eher so, dass die Liebe uns zu viel sehen lässt? (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.08.2005