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Aber als ich im Gras saß, sah ich sein verwittertes Gesicht durch die Schlingpflanzen spähen. Meine Großmutter hat ihn genau im Blick - etwas, was mir in all der Zeit, die ich schon hier lebe, noch nie aufgefallen ist. Es ist schön, wenn ein Ort, den man schon so lange kennt, immer noch sanfte Überraschungen bereithalten kann.
Unser Dorf ist immer winzig gewesen - nur ein Pünktchen auf einer Landkarte, wenn es überhaupt auf einer Karte zu finden ist, und nur ein einziges Hinweisschild draußen auf der Straße nach Lampeter, und das ist den Großteil des Jahres von Nesseln überwuchert. Etwa zwanzig Häuser, eine Kirche und ein Pub liegen unentdeckt in einem Winkel des Tales. Sogar die Stürme übersehen es oft, und daher ist Cae Tresaint selbst im Großen und Ganzen kaum beschädigt und die Dächer haben alle ihre Ziegel, das einzige wirkliche Problem ist der Fluss, der Brych, der nach einem heftigen Winterregen oder plötzlichem Tauwetter anschwellen und über die Ufer treten kann. Und auch der Boden kann schlammig werden. Solange ich diesen Ort kenne, hat das Gras um das Kriegerdenkmal herum unter den Füßen gequatscht. Am Gedenktag rutscht immer irgendwer aus. Selbst während der Trockenheit, die in meinen Teenagerjahren einmal einen ganzen Sommer lang anhielt, war es dort feucht. Der Matsch blubberte unter meinen Schuhen, und ich weiß noch, wie ich ein paar ausgetrockneten Kröten zusah, die über den Weg plumpsten, um die Stelle zu erreichen.
Und das Kirchentor hat man noch nie richtig schließen können, und das Pub-Schild braucht schon seit Ewigkeiten einen neuen Anstrich, und die alte rote Telefonzelle hält immer noch Wache oben im Dorf, wie eh und je. Es gibt keine Straße außer der einen, auf der man hereinkommt, und im Juni können die Hecken fast alles zuwuchern. Ich mag diese Unordnung - solche Mängel betonen nur den Charakter. Aber ein paar Dinge haben sich in einundzwanzig Jahren doch verändert. Der Gemeindesaal wurde Teil eines Wochenendhauses. Zwischen den Schafen summen inzwischen mehr Masten. Düsenjäger donnern auf ihren Übungsflügen durchs Tal. Die riesige Eiche, in der ich kopfunter hängen konnte wie eine Fledermaus, wurde für morsch befunden, gefällt und fortgeschleppt. Ich weiß noch, wie ich mit Gerry in ihr saß und mir am Abend der königlichen Hochzeit das Feuerwerk über Lampeter anguckte. Der Mann mit den grünen Augen ist woanders hingezogen, der Laden von Mr. Phipps ist nur noch ein gewöhnliches Haus, es gibt eine Busverbindung, ein bekritzeltes Wartehäuschen, und ich kenne dort unten nicht mehr viele Leute. Die Jungen sind fast alle weg; dass die meisten Alten tot sind, versteht sich von selbst. Mrs. Jessop ist so merkwürdig gestorben, wie sie lebte: Sie setzte sich eines Tages in ihrer Tweedjacke auf die Kirchenbank und stand nicht mehr auf. Den ganzen Tag dachten alle, sie würde bloß vor sich hin dösen. Sie wurde keine zehn Meter von der Stelle, wo sie starb, begraben, und meine Großmutter trug zur Beerdigung einen schwarzen Schlapphut, der nach Dachboden roch. Mrs. Hughes, Mr. Wilkinson, meine wunderbare Mrs. Maddox und meine Großeltern sind alle hier in der Nähe begraben.
Die kleine Straße, die zu uns heraufführt, beginnt ein Stück vor dem Pub »Zum Weißen Hirschen«, schlängelt sich an dem rosa Häuschen und der Ausweichstelle vorbei, durchquert in einer Furt den Brych und steigt durch einen Tunnel von Eichen bergan, vorbei an dem Gattertor, das einmal zu der verfallenen Scheune führte, und weiter und weiter hinauf bis zu unseren Linden und dem Viehgatter, wo sie mit einem Wendekreis vor einer Wand von Himmel und einem Dickicht von Brombeersträuchern endet. Es kann ein anstrengender Marsch sein - wie oft habe ich mich, tief in Gedanken, diesen Weg nach Pencarreg heraufgeschleppt, gewöhnlich bei Nieselregen, und immer taten mir am Ende die Beine weh. Keiner von Mr. PhippsÕ Zeitungsjungen hat es je bis zu uns herauf geschafft. Sie kamen bis zur Ausweichstelle, und dort gaben sie auf. Und meine Großmutter fand dann durchweichte Bündel in der Hundspetersilie und verlangte ihr Geld zurück.

Es kommen jetzt etwas mehr Besucher herauf, aber es ist nicht die Sorge um mich, die sie herführt, sondern Neugier. Ich bin, bis heute, ein Skandal. Mein Kind sorgt für Gesprächsstoff und meine Partnerwahl noch mehr. Ich habe gehört, dass man uns geschmacklos nennt. Ich habe gehört, dass über den Altersunterschied getuschelt wird - sechzehn Jahre! Sechzehn, stell dir das vor! Ist denn das noch normal? -, und zuerst machte es mir etwas aus, aber jetzt nicht mehr. Sie tun mir Leid. Vielleicht wissen sie nicht, was Liebe ist, oder sie kennen nur die sichere, ordentliche Art.
Aber nicht alle sind gegen uns. Es gibt auch ein paar, die sich wirklich für uns freuen und mit uns die Tage zählen. Daniel nimmt die Anrufe entgegen - »Es geht ihr gut«, sagt er ihnen. »Es geht uns beiden gut.« Der Hof ist für die meisten eine gänzlich andere Welt. Ich sage ihnen, dass wir uns über nichts zu beklagen haben, außer vielleicht über den Wind und den Schlamm und den steilen Weg herauf.
Wanderer lassen sich allerdings nicht davon abschrecken; sie finden ihren Weg zum Viehgatter. Billy Macklin hat es trotz seiner steifen Glieder und seines leichten Hinkens oft bis herauf geschafft - ganz außer Puste, sagte er dann immer und schnaufte durch feuchte Lippen. Und Rosie schaffte es auch. Leute, die heimlich hier ihren Müll abladen, schleichen sich nachts herauf, was mir natürlich ein Dorn im Auge ist und meine Großmutter einmal so in Wut versetzte, dass sie sich mit einem dieser Übeltäter auf eine laute Streiterei einließ. Sie war erstaunlich an diesem Abend mit ihren wild rudernden Armen und kochend vor feurigem, magischem Zorn.
Auch Vogelbeobachter kommen hierher, und ab und zu verirrt sich ein einsamer Betrunkener aus dem Pub zu uns herauf. Und jeder weiß, dass sich hier heimlich junge Pärchen treffen und Hand in Hand im Dickicht des von Unkraut überwucherten Reitwegs verschwinden. Meine Großeltern haben nie über solche Dinge mit mir gesprochen, also hatte ich keine andere Möglichkeit, als zu spionieren. Ich verkroch mich im Gebüsch und beobachtete Teenager beim Fummeln. Ich war entsetzt. Ich schwor mir, so etwas nie zu tun.
Zwei Jahrzehnte später und ich bin bekehrt. Der Beweis dafür liegt zusammengerollt in meinem Bauch, fast acht Monate alt. Aber die Teenager kommen jetzt nicht mehr so oft wie früher. Wenn ich manchmal doch welche auf unserer Straße entdecke, bin ich seltsam erleichtert. Mrs. Watts, die Frau mit dem Wieselgesicht, der jetzt das Pub gehört, kann das nicht verstehen - sie fragt mich immer, warum ich das toleriere, warum ich sie nicht verjage. Eine Schande nennt sie es, schüttelt den Kopf und verzieht abschätzig den Mund. Aber wie könnte ich etwas dagegen haben?
Auch Reiter kommen nach Pencarreg. In ihren Anoraks traben sie an unserem Hof vorbei und grüßen jeden, der gerade draußen ist. Den Pony Club nennt Daniel sie mit einem Zwinkern. Wenn es geregnet hat, hallt das Klappern der Hufe durchs Tal, und das Geräusch erinnert mich immer an jenen Tag, als ich mit nichts als einem Lunchpaket und dem Gefühl, belogen zu werden, auf dem Gelände des Reitstalls zurückgelassen worden war. Ein ziemlich heruntergekommener Ort damals, voller mürrischer Gesichter. Aber jetzt gehört Bryn Mawr einer Dame, die mehr Sommersprossen hat als ich und die ein gut besuchtes, weiß getünchtes Hotel daraus gemacht hat. Es hat seine eigene Website, Hochglanzprospekte, und jedes Mal, wenn ich dort bin, kommt es mir wie ein völlig anderer Ort vor.

* * *
Weihnachten war vorüber, aber es war noch im alten Jahr. Ich saß am Küchentisch und tunkte meine Toastschnitten in ein weiches Ei, als meine Großmutter die Gummihandschuhe abstreifte, sich mit dem Handrücken über die Stirn fuhr und sich hinsetzte. Ich spürte, dass etwas in der Luft lag. Sie griff nach der Zeitung, versteckte sich dahinter und sagte: »Hättest du Lust, dir morgen ein paar Pferde anzusehen?«
Ich wusste schon von ihrer Existenz. Das handgemachte Schild auf unserer Straße - CEFFYLAU! - warnte vor ihnen. Alter Pferdemist verrottete neben den Gattern und auf den Ausweichstellen.
»Warum?«
Meine Großmutter zog die Lippen zu einem Lächeln zusammen. »Wir haben uns halt gedacht, dass es eine nette Abwechslung für dich wäre«, sagte sie, »dass es dir Spaß machen könnte.«
Ich rührte mit der Toastschnitte in meinem Ei.
»Kommst du mit?«
Sie blätterte die Seiten der Zeitung um, ohne sie gelesen zu haben.
»Dein Großvater und ich, wir haben morgen was zu tun.«
»Warum?«
»Weil eben.«
»Was?«
»Sachen.«
»Was für Sachen?«
»Einfach Sachen, Evie!«
»Kann ich nicht mitkommen?«
»Nein, mein Schatz, das geht nicht.« Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und ergänzte: »Das wird dir Spaß machen, im Reitstall.«
Draußen regnete es, und ich dachte an die Kühe, die kauend unter den Bäumen standen und ins Wetter hinausschauten. Ich trat gegen den Tisch.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.08.2005