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Ich wusste, es würde dort Weiden geben und Enten zum Füttern, und in meiner Vorstellung regnete es nie in Stratford. Mein River Avon war immer glitzernd blau.
Aber Wales war nichts dergleichen.
Es war leer und nass. Es hatte steifes graues Gras und einen weiten dunklen Himmel, aus dem der Regen wie Streusplitt fiel. Der Wagen ruckelte bergan, und ich wurde von einer Seite zur anderen geworfen. Ich schlug mir den Kopf an. Ich ließ Hund fallen und war zu fest eingepackt und angegurtet, um ihn zu erreichen.
Draußen waren Felsen und Schlamm und blattlose Bäume. Ich sah keine Häuser. Nichts, wo jemand zu wohnen schien, keine Lichter in der Ferne, keine versteckten Einfahrtstore, keine Zufahrtsstraßen. Keine anderen Autos, keine Menschen draußen. Der Wagen rumpelte in ein Schlagloch.
»Das ist jetzt dein Zuhause«, sagte die Frau.
Ich sah nichts außer Steinen am Ende des Weges, ein schwaches Licht und einen Rauchfang. Als ich mich zu ihr umdrehte, bemerkte ich die Krümel von Mrs. WillisÕ Kuchen in ihrem Schoß.
Wales. Fünf Buchstaben, vier Stunden und eine Welt weit weg. Kein Vergleich mit Birmingham. Kein Vergleich mit irgendeiner Stadt. Für eine Siebenjährige ohne Mutter waren die Unterschiede am Anfang gewaltig und Angst einflößend. Aber mit der Zeit erwiesen sich manche als so geringfügig, dass man sie ganz vergessen konnte - Leitungswasser schmeckt in Wales sauberer; nasse Erde hat einen realen, unglaublichen Geruch; die Wolken sind größer; die Vögel kommen näher heran. Die Blumen wirken viel leuchtender. Ich weiß nicht, warum, aber so ist es.
Und es sollte Monate dauern, bis ich mich an die walisischen Nächte gewöhnt hatte.
In den Sommermonaten waren die Nächte in Birmingham rosa. Die Straßenlampen glommen eine nach der anderen auf. Die Vögel schienen nie zu ruhen, und ich lag wach, ließ ein Bein baumeln und hörte ihnen durchs offene Fenster zu. Sterne waren kaum zu sehen. Meine Mutter sagte, Sterne seien die Seelen noch nicht auf die Welt gekommener Kinder. Da standen sie oben, ganz still, und warteten darauf, von Müttern ausgewählt, heruntergeholt und in Kinder verwandelt zu werden. Ich glaubte ihr nicht wirklich, aber ich hätte es gerne geglaubt. Wenn ich nach meinem Vater fragte, kam sie immer gleich auf ihre Theorie von den Sternen zu sprechen. Da saß ich dann mit Hund am Fenster, schaute hinauf zu den wenigen Lichtern, die hell genug waren, dass man sie sehen konnte, und fragte mich, wessen Kinder sie wohl einmal sein würden, was für ein Leben sie haben würden hier unten mit uns anderen.
Der walisische Abend war anders. Er legte sich über das Tal wie Nebel. Eine tiefe Finsternis - schwarz wie Motoröl oder das Innere eines Briefkastens. Ich suchte nach Sternen, aber es gab keine. Als wir in den Hof einbogen, sah ich jemanden dort stehen. Ich starrte auf meine Füße, meine löchrigen rot-grauen Turnschuhe. Ich schlug die Knöchel gegeneinander.
Ich wusste, dass meine Großeltern mich nach meiner Geburt besucht und mir ein Mobile mit Kühen mitgebracht hatten, das jahrelang in meinem Zimmer hing und sich drehte, wenn vom Heizkörper die warme Luft aufstieg. Sie schickten mir auch Geburtstagskarten zum Aufklappen und gepresste Blumen, und meine Mutter schickte ihnen dafür Fotos von mir. Ich wusste, dass sie ihnen mein erstes Schulfoto geschickt hatte - ich mit fünf, mit störrischem Haar und einem unordentlichen Gewirr von Sommersprossen. Ich hatte nicht in die Kamera lächeln wollen. Die Lehrer hatten es mit allen Tricks versucht, mir Gesichter geschnitten, aber erst im letzten Moment, als alle genug hatten von meinem Schmollmund, hatte ich mein bestes Lächeln aufblitzen lassen. Meine Mutter mochte das Bild. Es brachte sie zum Lachen, und sie hatte es immer auf dem Kamin stehen, gleich neben der dürren, vertrockneten Rosenknospe und der abgegriffenen Ansichtskarte von der Limerick Bay.
Meine Großmutter öffnete die Wagentür. Sie schaute mit dunklen, dicht bewimperten Augen auf mich herunter und hob die Hand zum Mund. Da wusste ich, dass ich schrecklich aussah - verschwollen, verschwitzt, unglücklich und abgekämpft in meiner Wollstrumpfhose und dem dicken Mantel. Ich konnte den Bauernhof riechen - Stroh, Mist, Benzin, den Gestank nach stehendem Wasser, den scharfen Rauchgeruch eines Holzfeuers. Ich wimmerte. Ich streckte ihr die Hände entgegen und bewegte die Finger vor ihren Augen, und sie kniete sich nieder und öffnete den Gurt. Sie arbeitete rasch, mit rauen rosa Händen. Ich konnte den Flaum auf ihren Ohrläppchen sehen und die kleinen grauen Strähnen in ihrem Haar. Ich spürte ihre Hände um meine Mitte, und sie hob mich und Hund und meinen Dufflecoat hoch, aus dem Wagen und in ihre Arme. Die Haut an ihrem Hals war weich und warm. »Hallo, Evangeline«, sagte sie und küsste mich aufs Haar. »Hallo.« Sie trug eine geblümte cremefarbene Bluse unter einer hellblauen Strickweste, und ich klammerte mich an den Kragen der Weste und wollte nicht mehr loslassen. Ich atmete ihren Geruch ein, und sie sagte: »Ist ja schon gut, mein Schatz, ist ja schon gut.«
Sie hielt mich fest, und ich spürte, dass sie zitterte.
Über ihre Schulter hinweg sah ich den Wind in den Bäumen, hörte die Äste leise ächzen, und immer wieder sagte meine Großmutter meinen Namen.

Die Schuhschachtel
Evangeline. Fünf Konsonanten, fünf Vokale. Nicht einfach, einen solchen Namen am Hals zu haben, wenn man gerade erst lernt, Buchstaben aneinander zu fügen. Auch jetzt, mit neunundzwanzig, immer noch kein bequemer Name, denn es dauert eine Ewigkeit, ihn am Telefon zu buchstabieren, und ich bin schon bezichtigt worden, ihn erfunden zu haben. Vor allem Männer sprechen ihn gerne falsch aus. Sie stürzen sich in das Wort, verheddern sich darin wie in einem Drahtgeflecht. Wie zu fast allem, ist Langsamkeit auch hierzu der Schlüssel.
Ich habe ihn gehasst. Natürlich. Ich wollte einen Namen, bei dem nicht alle die Augenbrauen hochzogen und den ich nicht ständig wiederholen musste. Ich wünschte mir einen Namen, der in die Dose für mein Pausenbrot gepasst hätte. Dennoch, meine Mutter mochte ihn.
»Herzlichen Glückwunsch, Mrs. Jones«, sagten sie, als sie ihr das von Milchschorf klebrige, strampelnde Neugeborene überreichten. »Ein gesundes Mädchen. Komplett mit allen Fingern und Zehen. - Der Vater ist wohl ein Rotschopf?«, fügte die Hebamme schmunzelnd hinzu.
Ich wurde am Neujahrstag um drei Uhr früh im Entbindungsheim von Birmingham geboren. Ich war nicht das erste Baby des neuen Jahres, denn im Zimmer daneben war bald nach Mitternacht ein Junge in die Welt gepresst worden. Aber ich war das erste Mädchen. »Was Besonderes von allem Anfang an«, sagte meine Mutter oft, weil sie wusste, dass mich das tröstete, wenn meine Haut schmerzte. »Du warst die Nummer eins. Und wir haben zusammen am Fenster gesessen und zugeschaut, wie der erste Morgen des neuen Jahres heraufzog.«
Ich spürte, dass sie die Geschichte hübscher machte, als sie war, aber ich hatte nichts dagegen. Die Vorstellung von mir als winzigem Baby, behaglich eingepackt, vom blauschwarzen Haar meiner Mutter umrahmt, gefiel mir.

Neunundzwanzig ist ein Alter, das einem wichtig vorkommt. Es trägt einen Ernst in sich, als würden mir gewisse Dinge für immer verloren gehen, sobald ich ein Bein über den Zaun ins dreißigste Lebensjahr geschwungen hätte. Aber was eigentlich? Die wenigen Nachtklubs, die ich besucht hatte, waren mir ein Gräuel gewesen; Mode hatte mir nie etwas bedeutet; mein einziges Piercing ist längst zu einem kleinen Hautknötchen verheilt. Trotzdem galt ich als wild, das weiß ich. Ich kann mir vorstellen, wie ich in diesem ersten Sommer gewirkt haben muss - ernste Augen unter einem dichten Schopf, eine störrische Einzelgängerin, ganz und gar die Tochter meines Vaters, ohne es auch nur zu wissen. Immer bereit, mit einem unschuldigen Lächeln Gesetze zu brechen.
Wie dem auch sei: Dieses Alter ist ein Meilenstein. Letzte Nacht, als ich nicht schlafen konnte, kam ich zu dem Schluss, dass neunundzwanzig, wenn es eine Farbe wäre, rot sein müsste - von der Farbe des Drachen, der Farbe von Mr. PhippsÕ geplatzten Adern, der Farbe saurer Hagedornbeeren: etwas, um das man einen Bogen macht und das man respektiert. Und ich respektiere es. Wie auch nicht, wenn in diesem Jahr so viel geschehen wird?
Ich habe mir angewöhnt, den abgewetzten braunen Lehnstuhl aus dem hinteren Schlafzimmer über den Flur zu schleppen und an das Fenster über der Veranda zu stellen. Das ist einer der wenigen gemütlichen Plätze, die mir geblieben sind - da sitze ich, die Füße auf der Fensterbank, mit einem Kissen im Rücken, einer Tasse schwarzem Tee neben mir, einem Notizbuch, einem Kugelschreiber. Manchmal gesellt sich die Katze zu mir. Sie knetet meine Oberschenkel mit den Pfoten, während ich diese Geschichte niederschreibe.
Und es gibt viel zu sehen von hier - unseren Hof, das blaue Dach unserer Scheune mit den Feldern dahinter, in der Ferne Tor-y-gwynt, unsere Schafe, den walisischen Himmel.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.07.2005