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Es roch nach Benzin, Erde, feuchtem Holz, und ich zwängte mich zwischen die Wand und einen alten Liegestuhl, wickelte mich fest in die Decke, starrte in die Dunkelheit und kauerte dort, bis sie fort waren.
Die nächsten beiden Nächte blieb ich bei Mr. und Mrs. Willis - wer sonst hätte mich haben wollen? Ich schlief in dem kleinen Gästezimmer an der Vorderseite des Hauses, in dem es einen gefransten rosa Lampenschirm gab und Risse in der Zimmerdecke. In der Nacht huschten Scheinwerferlichter über die Wände, und ich lauschte dem Klick-Klick der Absätze auf dem Trottoir. Diese Dinge waren neu für mich, denn bisher hatte ich nur die Hinterseite des Hauses gekannt. Aber die Kater auf den Zäunen hörte ich. Und auch das Rattern der Güterzüge drang durch die Dunkelheit zu mir.
Mrs. Willis wich mir kaum von der Seite. Sie drehte die Heizkörper auf, erzählte mir Geschichten aus der Bibel, brachte mir weiche Eier mit Toaststreifen, setzte sich auf meinen Bettrand und tätschelte mir die Füße. Und einmal, als sie glaubte, ich schliefe, flüsterte sie am Telefon über mich. Ich saß am oberen Ende der Treppe, die Hände um meine Schienbeine gelegt, und zupfte an der Tapete mit dem Blattmuster. Ich sollte weggebracht werden. Ich wusste nicht, wohin oder für wie lange, aber ich wusste, dass ich nie wieder auf der obersten Stufe von Mrs. WillisÕ Treppe sitzen würde. »Das ist eine Fahrt von vier Stunden!«, zischte sie ins Telefon. »Kann ich sie denn nicht hinfahren? Um Gottes Barmherzigkeit willen, das Kind ist sieben Jahre alt.«
Am folgenden Morgen wurde die Sache erklärt. Mrs. Willis sagte, sie sei zu alt, um mich bei sich zu behalten, und Mr. Willis noch älter. Es gehe ihm nicht gut, sagte sie, und er brauche Ruhe. Das wusste ich ohnehin, denn er schien den verschossenen Lehnstuhl vor dem Fenster zum Garten nie zu verlassen. Von dort aus betrachtete er mit wässrigen Augen die Vögel auf dem Futterplatz und hustete in eine Hand voll Watte. Ich hatte ihn überhaupt nur zu Gesicht bekommen, wenn ich nach hinten gelaufen war, um meinen Ball zurückzuholen - ein wachsbleicher, magerer Mann in gestreiftem Pyjama, mit einer Halbbrille auf der Nase und gewaltigen Hängebacken, die beim Reden zitterten. In diesen beiden Nächten aber lernte ich auch seinen Geruch kennen und den seltsamen Rand unter seinen Fingernägeln, den er mit Zahnstochern herausputzte. Wenn in der Nacht die Scheinwerfer über meinem Kopf tanzten, hörte ich durch die Wand seinen Atem rasseln und fragte mich, ob er auch bald sterben und wer ihn finden würde.

Also wurde ich an einem Morgen mit Glatteis und weißem Dezemberhimmel in einen Wagen gesetzt. Mrs. Willis half mir. Ich kam mir vor wie ein Paket in meinem Dufflecoat und mit dem dicken Schal; ich hielt Hund an den Ohren. Mein Ausschlag juckte unter der roten Wollstrumpfhose. Es war ruhig in unserer Straße. Bevor Mrs. Willis die Wagentür schloss, gab sie mir noch eine Satsuma und ein Stück matschigen Obstkuchen für die Fahrt.
»Gott behüte dich« - sie lächelte - »und versuch, brav zu sein.«
Als der Wagen losfuhr, bemühte Mrs. Willis sich, mit ihm Schritt zu halten. Sie begann mir Küsse zuzublasen und formte mit den Lippen Worte, die ich nicht verstehen konnte. Ich dachte, sie hätte sich vielleicht anders besonnen und versuche, mich einzuholen, um mich wieder in das Zimmer mit dem fransigen Lampenschirm zu bringen. Ich legte meine Hand an die Scheibe. Ich wünschte, sie würde schneller laufen, aber sie wurde kleiner und kleiner. Durchs Heckfenster sah ich sie neben dem Briefkasten am Ende unserer Straße stehen, den linken Arm erhoben, ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand. Das war das Letzte, was ich von ihr sah. Als der Wagen um die Ecke bog, leuchtete ihre weiße Schürze durch das Dämmerlicht.

Genau genommen bin ich ein Mädchen aus den Midlands. Ich bin nie wieder dort gewesen und betrachte es nicht als meine Heimat, aber den Akzent habe ich noch nicht ganz verloren. Ich kann noch immer den Geruch der Kanäle im August beschreiben. Ich stelle mir gerne vor, dass ich immer noch Kohlenstaubatome in mir habe, dass die Abgase vom Verkehr auf der M6 immer noch in meinen Adern kreisen. Dass es mir vorkommen würde, als wäre ich nie weg gewesen, würde ich je wieder die New Street entlanggehen.
Bis sie starb, kannte ich nichts anderes. Ich wurde nach Birmingham gebracht, bevor ich geboren war, bevor meine Mutter wusste, ob ich ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Wenn sie in der Badewanne saß, habe sie zugesehen, wie meine Ellbogen sich wie die Flügel eines Hühnchens in ihre Bauchwand bohrten, sagte sie. Wir wohnten nicht in der Nähe der Schokoladenfabrik, aber manchmal war ich sicher, dass ich die Kakaobohnen und die Sahne riechen konnte. Ich lehnte mich aus dem Fenster, schloss die Augen und atmete tief.
Als ich alt genug war, verbrachte ich meine Wochenenden damit, unter den Marktständen im Bull Ring herumzukriechen, schmutzige Tauben zu jagen und mich auf den altersschwachen Schaukeln im Park anstoßen zu lassen. In der Schule nahm ich den Akzent an. Vom Schulhof brachte ich Fußballhymnen mit und grölte sie in der Badewanne. Mit sechs setzte ich mich an den Rand des Gas Street Bassins und tauchte meine Füße ins Wasser, und meine Mutter zog mich wegen des grünlichen Schaums und der Dinge, die dort herumschwammen, heraus. Sie schrubbte mir die Füße, bis die Haut prickelte. Ich durfte nicht mehr dorthin.
Wenn die Windrichtung günstig war, roch unser Haus würzig nach dem indischen Takeaway drei Straßen weiter. Und wir konnten den Lärm von St. Andrews hören, wenn es dort ein Heimspiel gab. Mr. Round von dem Laden an der Ecke schenkte mir immer ein Kaubonbon. Beim Anstellen oder Wäscheaufhängen redeten die Leute immer noch von der irischen Bombe, und ich hörte zu, obwohl ich erst vier gewesen war, als es passierte, und mich überhaupt nicht an die Explosion erinnern konnte. Zwischen den feuchten Blättern auf dem Bahndamm versteckten sich Kröten. Und wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich aus dem Fenster unseres Badezimmers die Kuppel der Rotunda sehen.

Sie brachten mich weg von dort. Als wir aus unserer Straße bogen, sah ich den Briefträger auf seinem Fahrrad, und vor der Apotheke stand der alte Mr. Soames, dem der Daumen fehlte, mit seinem aufgedunsenen Hund. Dann flitzte das rote Backsteingebäude meiner Schule vorbei, die Moschee mit dem türkisfarbenen Dach, das Bingolokal, die Markthalle mit ihrem dumpfen Geruch, und ich presste das Gesicht an die Scheibe, als ich das Schild zur Station Moor Street sah, denn meine Mutter war einmal mit dem Zug mit mir gefahren, nur damit wir sehen konnten, wie unser Haus von der Bahnstrecke her aussah. Ich hatte Hund in mein Fenster gesetzt und erspähte ihn kurz im Vorbeirollen. Als wir an einigen Bahnarbeitern vorbeikamen und meine Mutter gerade nicht hersah, streckte ich zwei Finger in die Höhe, einfach so, und die Männer richteten sich auf und wischten sich über die Stirn. Das war vor zwei Sommern gewesen, als sie eine gute Periode hatte. Die rosa Pflanze auf dem Dach des Schuppens hatte geblüht.
Ich wollte nicht weg. Ich zerrte an meinem Sitzgurt, zog am Türgriff, schlug mit den Fäusten gegen die Scheiben, so dass die Leute auf den Trottoirs aufblickten und herstarrten. Ich wollte Mrs. Willis. Ich wollte meinen Sitzsack und ein Glas Milch und das Haar meiner Mutter mit seinem warmen Geruch. Ich wollte das Silberglöckchen, das ihr an einer Kette um den Hals hing, aber als ich zu schreien anfing, packte mich die Frau neben mir bei den Handgelenken. Sie kämpfte mit mir. Sie sprach mit einer Stimme, in der eine warnende Schärfe lag, und ich entwand mich ihr und vergrub mein Gesicht in Hund. Er roch nach Zuhause - Jasmin, Wäsche, Zigaretten. Ich wurde ruhiger. Ich streichelte ihm mit dem Daumen über die Nase.
Der Regen kam mit der Autobahn. Birmingham lichtete sich zu ein paar grauen Fabriken, Parkplätzen und Graffiti. Dann nichts mehr.

* * *

Wie Kinder das zu den seltsamsten Zeiten können, schlief ich.
Es war heiß im Wagen; der Regen trommelte aufs Dach.
Mit brummendem Kopf wachte ich auf. Alles sah anders aus. Das Licht im Wagen war eigenartig. Schärfer. Ich verdrehte mich auf meinem Sitz. Die Frau neben mir las. Ich schaute von ihr zum Fahrer und zu Hund und wartete. Etwas war anders geworden. Die Räder knirschten auf Kies.
Ich wusste, dass ich schon früher auf dem Land gewesen war. Einmal hatten wir einen Schulausflug zu den Lickey Hills gemacht, und ich hatte unter einer Eiche, zwischen den heruntergefallenen kleinen Eicheln, die wie volle Eierbecher aussahen, meine Brote gegessen. Zu meinem sechsten Geburtstag bekam ich einen blau-gelben Drachen, und wir hatten ihn auf dem Cannock Chase zwischen den Dachsbauten steigen lassen. Mrs. Willis hatte mir immer wieder versprochen, mich einmal nach Stratford mitzunehmen. Wir würden mit dem Boot fahren, hatte sie gesagt, und zum Fünfuhrtee gehen. Es ist nie was daraus geworden, aber ich konnte es mir vorstellen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.07.2005