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Weißes Papier
Auf weißem Papier hat meine Mutter geschrieben:
Gestern Abend bin ich gegangen, wo er gegangen ist. Ich ließ mich von meinen Beinen führen. Quer durchs Farn, und dann setzte ich mich wieder auf den Zaun. Woher kommen Sommersprossen? Ich werde ihn fragen. Die Fledermäuse waren draußen, und ich sah ihnen fast zwei Stunden zu.
Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen heißt, ich weiß nicht einmal, wie alt er ist. Aber dies ist ein Anfang. Ich stehe am Rand von etwas Neuem. Ich weiß es und schreibe es.
Natürlich hatte sie Recht.

ERSTES BUCH
Abreise
Drei Dinge geschahen, als ich sieben war.
Im Frühling lernte ich meinen Namen schreiben. Es dauerte Wochen, aber als ich schließlich alle fünfzehn Buchstaben im Griff hatte, schrieb ich sie hin, wo immer ich Platz dafür fand - in Bücher, auf Möbel, mit Ketchup auf meinen Teller, mit Kugelschreiber auf meine Arme, mit Spucke auf die Fensterscheiben. Einmal habe ich ihn auf die Wand über der Fußleiste im unteren Klo gekritzelt. Meine Mutter hat ihn nie entdeckt, aber ich habe gewusst, dass er dort steht. Da saß ich, schlenkerte mit den Beinen und begutachtete mein Werk unter dem Waschbecken. Es leuchtete mir in blauer Wachskreide entgegen.
Im Sommer holte ich mir einen Sonnenbrand. Ich war den ganzen Tag im Garten gewesen und hatte nach Würmern gegraben. Die Pflastersteine waren so heiß, dass man nicht darauf gehen konnte, und das Dach des Schuppens wurde ganz weich. Am Abend war ich krebsrot. Sie tauchte mich in ein kühlendes Bad und rieb mich mit Galmeilotion ein, aber ich wimmerte trotzdem. Drei Tage lang konnte ich nicht schlafen. Ich hatte leichtes Fieber, war quengelig, und die Bettdecke klebte an meinen Blasen. Zwei Wochen später bekam ich noch mehr Sommersprossen.
Und zehn Tage vor Weihnachten verlor ich sie.

Woran erinnere ich mich? An jede Kleinigkeit. Von den ausgefransten Säumen meiner Pyjamahose bis hin zu dem gespenstischen blauen Licht, das bei Regen über der Stadt liegt. Man vergisst nicht so leicht. Seit einundzwanzig Jahren stochere ich in meiner Erinnerung herum, hole einzelne Augenblicke ans Licht, prüfe mich. In der Hoffnung, dass ich vielleicht endlich zu einer glatten weißen Narbe verheilt bin.
Ich weiß noch, dass es ein Freitag war. Dass alles still war im Haus, als ich aufwachte. Dass die Post noch auf der Fußmatte lag, als ich die Treppe hinuntertappte, und dass die Milch im Kühlschrank gelb geworden war. Die Küchenvorhänge waren noch nicht aufgezogen.
Meine Mutter lag zusammengerollt unter der Patchworkdecke auf dem Sofa. Ich trat von einem Fuß auf den anderen, sah das Taschentuch in ihrer Hand, den vollen Aschenbecher. Sie roch nach Jasmin. Sie roch immer nach Jasmin. Für mich war das ihr Duft, als produziere sie ihn irgendwie selbst.
Und es kam mir komisch vor, dass die Müllabfuhr noch nicht da gewesen war. Sie kamen immer freitags. Ich mochte das Geklapper und den Lärm, es gefiel mir, wie die Männer mit einer Hand unseren Müll packten, wie ihr Wagen die Säcke verschlang und einen Gestank nach Gemüse hochrülpste. Ich wäre gerne Müllmann geworden. Ich hätte gerne eine grüne Jacke mit dazu passender Kappe getragen, hätte gerne an der Seite des durch die Straßen rüttelnden Wagens gehangen. Sie pfiffen und winkten immer, wenn sie mich sahen. Die Müllmänner machten alles besser. Ich hätte sie an dem Morgen gerne dagehabt.

Vielleicht habe ich es gespürt. Vielleicht hat irgendetwas in mir gewusst, was kommen würde. Kann das sein? Kann man den Tod spüren wie einen Wetterumschwung? Ich habe mir die Frage oft gestellt. In meinen ruhigeren Augenblicken, wenn ich halb betrunken war oder krank oder müde, bin ich der Vorstellung erlegen, dass ich den Tod irgendwie hätte verhindern können - in beiden Fällen. Denn der Tod meiner Mutter war nur der erste. Es sollte noch einer kommen - einer, der sich sein Opfer jählings schnappte. Er machte die Straßengräben dunkler und ließ uns schwerer Schlaf finden. Und wenn der Wind ohne Vorwarnung plötzlich aufbrauste, lief ich los.
Ich habe in letzter Zeit zu viel an Vergangenes gedacht. Neue Stirnfalten und abgekaute Nägel sind der Beweis dafür. Ich war abgelenkt, fühlte mich verloren, hatte seltsame Träume; ich ertappe mich dabei, dass ich aus dem Fenster starre und in die Stille horche. Aber ich habe jetzt auch Grund dazu.
Ich muss mir alles in Erinnerung rufen, wozu der Tod meiner Mutter für mich geführt hat, was ich empfunden habe, wie es war. Ich muss jeden Blick aufschreiben, jedes ins Ohr geflüsterte Wort. Wie heiß jener Sommer war. Wie die Nachtfalter im Dunkeln gegen die Fensterscheiben stießen. Wie leicht es war, sich im Farn zu verstecken. Den purpurnen Schimmer entstellter Haut. Nesselausschlag. Wie sich die Hand eines Mannes auf mir anfühlte. Die Lügen, die ich auftischte. Das Feuer.
Es besteht kein Zweifel, dass der Tag, an dem meine Mutter starb, seltsam still war; dass unser kaltes Reihenhaus den Atem anzuhalten schien. Später, als Teenager, stellte ich mir vor, dass der Verlust eines Menschen wie ein Stein, der in einen Teich geworfen wird, dunkle Wellen auslöst, die sich bis in die fernsten Winkel ziehen. Vielleicht haben einige mich erreicht, während ich, das Kinn auf die Knie gepresst, im Fenster saß.
Vielleicht nicht.
Jedenfalls, die Männer von der Müllabfuhr kamen an dem Tag nicht mehr.

Gegen Mittag rührte sich meine Mutter. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, und als ich die Eingangstür zufallen hörte, kletterte ich auf die Fensterbank, von wo ich bis zum Kaufmann an der Ecke sehen konnte. Das war verboten - man hatte mir gesagt, ich könnte durch die Scheiben fallen. Aber ich wusste, dass sie nicht zurückschauen würde. Sie blickte an den Telegrafenleitungen vorbei nach oben. Der Wind wurde stärker. Der Himmel hing tief und stahlgrau über der Stadt.
Als sie nach Hause kam, trug sie eine Plastiktüte, und eine Weile wirkte unser Haus wieder bewohnt. Aus der Küche drangen Geräusche. Ich hörte die Klospülung, ich hörte sie in ihren Pantoffeln durch die Diele schlurfen. Im Kühlschrank fand ich eine Flasche Milch, die nicht sauer roch oder klumpig geworden war und mit einem appetitlich bläulichen Schimmer ins Glas schwappte. Ich nahm es von ihr entgegen und umfasste es mit beiden Händen. Es schien ihr wieder ganz gut zu gehen, sie sah glücklicher aus. Also begab ich mich wieder hinauf in mein Zimmer und begann, mit einem Penny meinen Namen in die Wand zu ritzen. Ich fühlte mich besser. Am Ende des Gartens rollten die Züge im Regen vorbei.

* * *

Es wurde vier. Die Uhr in der Diele flüsterte es. Ich lag auf dem Boden, stopfte mir ganze Kekse in den Mund und blätterte in meinen Comics, als ich das Stiegengeländer knarren hörte. Sie schlurfte an meinem Zimmer vorbei. Eine Haarsträhne zwischen den Fingern zwirbelnd, fragte sie: Alles in Ordnung da drinnen?
Dann ließ sie sich ein Bad ein.
Ich liebte das Geräusch. Es machte mich schläfrig, und wenn ich die Augen schloss, dachte ich an grandiose Wasserfälle und kleine schaukelnde Boote. Sie blieb immer lange in der Badewanne. Sie liebte dicke Körpercremes und duftendes Puder. Sie liebte es, sich die Stadt aus den Haaren zu waschen und sich zu kämmen, während sie durchs Haus spazierte und die Lichter andrehte, sie liebte flauschige weiße Handtücher, Kerzen am Fenster, Wasser, das so heiß war, dass sich nach dem Bad eine rote Linie um ihre Mitte abzeichnete, und an diesem Nachmittag roch ich ihren Duft nach Jasmin und Zigaretten, hörte, wie ihre Kleider zu Boden fielen, und sechzehn Minuten nach vier, als der Zug von Snow Hill nach Marylebone am Haus vorbeirollte und sein Tuten in die feuchte Luft stieß, schloss meine Mutter die Tür zum Badezimmer.
Ich weiß, dass ich, das Kinn in die Hände gestützt und vor mich hin summend, in meinen Comics las, als sie starb.

Mrs. Willis von nebenan erledigte den Anruf. Ich stand in Bademantel und Pantoffeln auf der Schwelle vor der Hintertür, blickte in die frostige Kälte hinaus und wollte nicht wieder hinein. Sie trug eine dunkelrote Strickjacke mit Knöpfen, die wie Bonbons aussahen, und sie roch nach Waschmaschine. Sie kam mit der Patchworkdecke zu mir heraus, kniete sich hin, legte sie mir um die Schultern. Die Decke war schwer. Sie rieb mir die Hände warm, versuchte, mir das Haar glatt zu streichen. Sie hielt mir die Ohren zu, als die Sirenen kamen, und drückte mich an ihre Brust, aber ich hörte es trotzdem.
Als sie ging, um die Leute ins Haus zu lassen, trottete ich zum Schuppen, zog den Riegel auf und kroch hinein. Drinnen stand mein Fahrrad, zusammen mit ein paar alten Blumentöpfen und einer Gießkanne, und ein paar Ziegel lagen herum.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.07.2005