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Neue Wege der Lebensdeutung

Süsterkirche und Neustadt Marien schlagen Brücke von der Religion zur Kunst

Von Uta Jostwerner (Text)
und Carsten Borgmeier (Foto)
Bielefeld (WB). Eine Begegnung zwischen Kunst und Kirche, zwischen Altertum und Moderne ermöglicht die Gottesdienstreihe »Kunst und Religion«. Hat Erika Edusei, Pfarrerin der Evangelisch-reformierten Süsterkirche, die Reihe bereits vor sechs Jahren im Gottesdienst etabliert, steigt erstmals in diesem Jahr auch die Neustädter Marienkirche mit ins Boot der kunsthistorisch-theologischen Predigten ein.

»Wir wollen den Sommer nutzen, um gottesdienstliche Bonmots zu setzen«, erklärt Pastor Alfred Menzel und verweist auf die Kunstschätze der Neustädter Marienkirche wie Kanzel und Marienaltar. Als Kulturerbe weisen sie weit über den Zweck der Dekoration hinaus, sondern eröffnen neue Wege der Lebensdeutung.
So stehen dann auch zwei Tafeln des im Jahre 1400 vollendeten Marienaltars im Zentrum der Betrachtung. Mit einer Predigt zur Tafel »Die Taufe Jesu« eröffnet Menzel die Reihe am kommenden Sonntag, 24. Juli, 10 Uhr, in der Neustädter Marienkirche. Am Sonntag, 31. Juli, 10 Uhr, wird Pastorin Edusei als Gastpredigerin die Abbildung »Der Einzug Jesu in Jerusalem« zum Ausgangspunkt ihrer Predigt machen.
Im Sinne einer ganzheitlichen Gemütsbewegung und geistlichen Erbauung wird Kirchenmusikdirektorin Ruth M. Seiler die Gottesdienste mit musikalischen Gourmandisen bereichern. So stehen an diesem Sonntag eine Bach-Sonate und ein Telemann-Concerto auf dem Programm. Die Ausführenden sind Ruth M. Seiler am Cembalo, Christel Bresser (Blockflöte) und Clemens Mattussek (Violoncello).
An den beiden darauffolgenden Sonntagen findet die Reihe in der Süsterkirche mit Originalgrafiken von Emil Nolde und Max Beckmann ihre Fortsetzung. Die Kunsthalle stellt die Werke leihweise zur Verfügung.
Beide Bilder fielen der faschistischen Kulturpolitik der Nationalsozialisten zum Opfer. Die Grafiken aus dem Jahre 1911 bilden das Thema »Christus und die Sünderin« ab und galten als entartet. »Sie mussten abgehängt werden. Daher rührt auch der Titel unserer Reihe ÝDie AbgehängtenÜ«, verdeutlicht Erika Edusei.
1937 wurden die Werke beschlagnahmt. Erst 1997 konnte die Nolde-Radierung, die 1929 vom städtischen Kunsthaus erworben wurde, von der Kunsthalle zurückgekauft werden. Max Beckmanns Lithografie wurde 1952 erworben. Erika Edusei: »60 Jahre nach Kriegsende steht es nun an, diese Bilder, die sich mit dem zentralen Text der Jesus-Verkündung auseinandersetzen, in eine Kirche zu holen, um ihre enorme politische, moralische oder religiöse Kraft zu erleben.«
Die Gottesdienste in der Süsterkirche finden am 7. und 14. August statt und beginnen jeweils um 10.15 Uhr.
Beiden Werkreihen gemeinsam ist, dass sie bedrohte Kunst behandeln. Alfred Menzel: »Sie haben eine Zerstörungs- und Verlustgeschichte hinter sich. Auch der Marienaltar wurde im 19. Jahrhundert durch den Verkauf der Seitenflügel auseinander gerissen.«

Artikel vom 23.07.2005