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Mitten ins Herz von Europa

550 Nachwuchsjournalisten fragen nach Sinn und Unsinn der EU

Von Jens Twiehaus
Brüssel (WB). Erstaunlich ruhig ist es plötzlich. Spannung, Ungewissheit und ein bisschen Erstaunen spiegeln sich in den Gesichtern der 565 Teilnehmer des »Jugendmedienevent 2005« wieder, als sie den Plenarsaal des Europaparlaments in Brüssel betreten. 27 von ihnen haben die Fahrt aus Ostwestfalen-Lippe angetreten.

Hier also kommen sie her: Gesetze, Richtlinien und seit Wochen schon bitterböse Schlagzeilen. »Die EU ist in der Krise und wir sind mitten drin«, schmunzelt ein Teilnehmer. Eingeladen hatte die »Junge Presse« Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet und dem europäischen Ausland. Ihre Leitfragen: Was ist die EU, wer arbeitet hier und brauchen wir das überhaupt?
Beeindruckt von mächtigen Schlagzeilen dampften die 12- bis 27-jährigen Medienmacher im Sonderzug gen Brüssel. »Die Diktatur der Bürokraten« wetterte vor kurzem das Nachrichtenmagazin »Spiegel« und schimpfte die EU eine »Macht vom anderen Stern«. Die »Bild« moserte über die »Gurkenverordnung«, raffgierige Abgeordnete und ließ ihre Leser per Telefon gegen die gemeinsame EU-Verfassung abstimmen.
Und genau dieses Thema liegt immer noch wie ein grauer Schleier über dem Regierungsviertel rund um die »Rue Wirtz«, das spüren die Jugendlichen im Parlament. In einer Art Pressekonferenz mit allen 565 Nachwuchsjournalisten erklärt der konservative Abgeordnete Hartmut Nassauer die Unterzeichnung für gescheitert. »Franzosen und die Niederländer wollen die Verfassung nicht«, verweist er auf die Referenden im Mai und im Juni. »Das sehe ich anders, Herr Kollege«, widerspricht ihm Jo Leinen von den Sozialdemokraten. »Wir dürfen das Projekt nicht aufgeben.«
Die Vorteile der Verfassung liegen auf der Hand: Man einigt sich auf gemeinsame Werte, schafft eine bessere Vernetzung zwischen Institutionen und reformiert die gesamte Union. Ebenso verständlich sind die Meinungen der Kritiker: Sie befürchten einen Verlust an nationaler Identität. Die Angst vor dem europäischen Superstaat. »Aber das wollen wir ganz sicher nicht«, stellt Josef Leinen klar.
Doch woran ist die Verfassung nun wirklich gescheitert? Warum ist die EU in einer derart großen Vertrauenskrise, fragten die jungen Journalisten beim »Jugendmedienevent«. Die Antwort, überraschend und eindeutig: Das Problem ist die Arbeit der Union, die viel zu wenig in die Öffentlichkeit gelangt. Kaum einer weiß, wie ein Gesetz verabschiedet wird und ob die EU wirklich so viele Mitarbeiter und Vertretungen braucht.
»Ja, das brauchen wir«, antwortet Heinz Koller in einem Workshop auf diese Frage. Er vertritt den Freistaat Bayern in Europa - und ist mit seinem Anliegen nicht alleine. Länder, Kommunen, unzählige Verbände und »Lobbys« senden ihre Vertreter nach Brüssel. »Nur so können wir sicher gehen, dass alle Richtlinien aus Brüssel auch schnell bei uns umgesetzt werden«, sagt Koller. Von 23 000 Bundesgesetzen im letzten Jahr sind 19 000 auf Initiative aus Brüssel entstanden. Auch Vertreter aus Ostwestfalen sitzen in Europas Polit-Hauptstadt, beobachten, berichten und greifen ein, wenn ein Gesetz beraten wird, dass schlecht für unsere Region ist.
Doch ein Wermutstropfen blieb bei der Rückreise nach Essen, wo die jungen Redakteure noch spannende Journalisten-Seminare erwarteten: Kaum einer hatte erfahren, wie die Union nun wirklich aufgebaut ist, wie sie funktioniert. So blieb Europa für die Teilnehmer weiter das verschlossene Gespenst ohne Gesicht, das es schon vorher war.

Artikel vom 28.07.2005