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Wenn die Kastanien erzählen

Vier unbekannte Waldgedichte von Hoffmann von Fallersleben entdeckt

Von Dietmar Kemper und
Carsten Borgmeier (Foto)
Detmold/Höxter (WB). Literatur-Sensation in Westfalen-Lippe: Die Bibliothekarin der Bezirksregierung Detmold hat vier unbekannte Waldgedichte des Deutschlandlied-Dichters August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 bis 1874) entdeckt.
Dr. Günter Tiggesbäumker: ein sensationeller Fund.
»In einer wissenschaftlichen Zeitschrift, in der es um Borkenkäfer ging, standen plötzlich diese Gedichte«, sagte Sonja Siebers dieser Zeitung. Hoffmann von Fallersleben, lange Jahre Archivar in Corvey, wurde als Dichter des Deutschland-Liedes weltberühmt. Er verfasste auch zahlreiche Kinderlieder wie »Ein Männlein steht im Walde« und »Alle Vögel sind schon da«.
Sonja Siebers stieß auf den Zyklus mit Gedichten in der »Monatsschrift für das Forst- und Jagdwesen« aus dem Jahr 1867. Dort suchte die Bibliothekarin nach Informationen über den »Wildschütz« Hermann Klostermann. Der »Robin Hood der Egge« hatte Mitte des 19. Jahrhunderts in den heutigen Kreisen Paderborn, Höxter, Hochsauerlandkreis und Waldeck-Frankenberg ohne Erlaubnis Hirsche und Wildschweine geschossen, die Beute mit Armen geteilt und sich dadurch einen legendären Ruf erworben.
Siebers stöberte nach einem Theaterstück über den Wildschütz, das in der Heimat der Bibliothekarin, in Marsberg-Erlinghausen, 2007 aufgeführt werden soll - rechtzeitig zur 900-Jahr-Feier des Ortes. Weil die Bibliothek der Bezirksregierung mit 50 000 Bänden Teile des Nachlasses der Vorgänger-Verwaltung Minden enthält, hoffte sie fündig zu werden. Am Ende entdeckte Siebers statt des Theaterstücks über den Wilderer die Verse des Dichters. »Ich bin über die Anmerkung in der Monatsschrift gestolpert, die Gedichte seien bisher nicht im Druck erschienen«, erzählte die Bibliothekarin dieser Zeitung.
»Die Gedichte sind in der Tat Neuentdeckungen«, bestätigte Günter Tiggesbäumker, der die Bibliothek Corvey betreut und als Experte für Leben und Werk von Hoffmann von Fallersleben gilt. »Der Zyklus ist in den vom Dichter autorisierten Bänden nicht veröffentlicht worden.« Auch die Hoffmann-von-Fallersleben-Gesellschaft in Wolfsburg habe nichts von den Werken gewusst.
Tiggesbäumker hatte sich in der Bibliothek Corvey auf die Suche gemacht: »In einer Archivkiste habe ich schließlich die Originalhandschriften in einer Mappe gefunden.« Die Gedichte habe Hoffmann von Fallersleben an seinen Dienstherrn, den Herzog von Ratibor in Schlesien, geschickt, und dessen Forstinspektor Elias zu Rachowitz habe sie der Monatsschrift zugestellt. Der Zyklus trägt den Titel »Der Bäume Leid und Lied« und besteht aus den Gedichten »Der alten Bäume Nothschrei«, »Bitte um Fürbitte der Vögel«, »Des alten Baumes Fluchgesang« und »Des jungen Baumes Traurigkeit«.
Tiggesbäumker fand heraus, dass Hoffmann von Fallersleben seinen Trauergesang der Natur 1866 schrieb, als die Corveyer Allee aus Kastanienbäumen abgeholzt werden sollte. In dem Gedicht »Der alten Bäume Nothschrei« lässt der Dichter die Bäume klagen: »O weh! Will darum man uns morden, nur darum, weil wir alt geworden, weil wir uns seit undenklichen Tagen mit Wind und Wetter herumgeschlagen, und eingebüßt, das Gott erbarm! Wohl hie und da mal Händ' und Arm? Ist das des Kampfes Ehrenzeichen, zu fallen unter der Freunde Streichen?«
Von Fallersleben sei ein Anwalt der Natur gewesen, weiß Günter Tiggesbäumker: »Das Wesertal war ihm heilig.« Der Dichter selbst habe dem Zyklus den Titel gegeben »Was die Corveyer Kastanien erzählen: Wahrheit und Dichtung«.
Die Redaktion der Monatszeitschrift verallgemeinerte die Kastanien aus Höxter und änderte den Namen. Für die Hoffmann-von-Fallersleben-Forschung seien die Gedichte ein bedeutender Mosaikstein und für Höxter-Corvey ein Beitrag zur Lokalgeschichte, betonte Tiggesbäumker.

Artikel vom 25.07.2005